In meiner Zeit als Sprachtherapeutin hatte ich einen Klienten, welcher erst mit 19 Jahren seine Asperger-Diagnose erhalten hatte.
Schule war für ihn eine Aneinanderreihung von Traumata der verschiedensten Intensitäten, von denen er akzentuiert und ausführlich berichtete.
Er erzählte, wie er sich seit frühester Kindheit „falsch“ gefühlt habe, wie er Menschen beobachtet habe: „Als wenn ich ein Bild betrachte, aber außerhalb vom Gemälde sitze.“.
Im Rahmen der Autismus-Diagnostik wurde eine Sprachentwicklungsverzögerung diagnostiziert, wegen der er schlussendlich den Weg zu mir, damals noch in der sprachtherapeutischen Praxis, fand. In dem Bericht stand: „nicht altersgemäß entwickelter Wortschatz.“
Vor mir saß aber ein junger Mann, der sich durchaus gut ausdrücken konnte… Rein sprachtherapeutisch gab es nach meinem ersten Eindruck hier nicht viel zu tun…
Insbesondere die Einschätzung des eingeschränkten Wortschatzes verwunderte mich und so machten wir erneut einige Testungen in diesem Bereich.
Bereits der erste Test ließ mich vermuten, wie das Ergebnis zustande gekommen war.
Bei diesem Wortschatztest soll der Proband „einfach“ nur verschiedene Bilder benennen, die er gezeigt bekommt.
„Einfach“. …
Der junge Mann brauchte Zeit, viel Zeit. Zeit, die er vermutlich bei der anderen Testung nicht bekommen hatte. Er betrachtete die Bilder lang und ausgiebig, ich verfolgte seine Blickrichtungen. Und irgendwann fragte ich: Was überlegst du gerade?
Und ich bekam Antworten:
Leider sind die Bilder ja nur schwarz-weiss. Ich bin mir also gerade nicht sicher, ob das hier in der Schale Äpfel, Tomaten oder Orangen sind… (das im Test eigentlich gewünschte Zielwort wäre „Küche“ gewesen… Das Bild war einfach zu detailreich…)
Hier bin ich nicht sicher, ob es sich um einen Feldweg handeln soll, oder ob es vielleicht eher Schleifspuren sind… (Zielwort war: Weg)
Nun, das kann Vieles sein, ich bin nicht sicher, was genau „richtig“ sein soll. Ball, Wasserball, Gummiball, Spielzeug, Kreis? Leider erkennt man auf einer Abbildung ja keine 3-Dimensionalität… (Zielwort: Ball)
…
So ging es durch den gesamten Test!
Er hatte pro Aufgabe nicht nur ein Wort, sondern mehrere, inklusive Begründung, erneuter in-Frage-Stellung und möglichen passenden Synonymen.
Ein zweiter Test zeigte “einfache Situationen“ und sollte/wollte das Sprachverständnis testen. Man mag es an dieser Stelle bereits ahnen - diese „einfachen Situationen“ waren durchweg für ihn zu detailreich dargestellt. Jede Karte warf für ihn unzählige Fragen auf. Und auch hier verstummte er zunächst, bis ich ihn wieder fragte: Was überlegst du gerade?
Einige Beispiele:
(Ziel: Der Junge pflückt Äpfel.) Also vermutlich ist diese Abbildung gemeint. Aber hier ist ebenfalls ein Kind. Zwar trägt es einen Rock und lange Haare, aber warum sollen nicht auch Jungs Röcke und lange Haare tragen? Zudem greift jedes Kind nur nach einem Apfel, aber Sie fragten doch nach „Äpfeln“…
(Ziel: Der Stift liegt unter der Schachtel.) Das ist leider nicht eindeutig. Hier sieht man den Stift unter Schachtel, aber hier könnte er ja auch darunter liegen, vielleicht nur mehr in der Mitte, so dass man eben nichts mehr davon sehen kann und er vollflächig abgedeckt wäre….
(Ziel: Der Junge schenkt seiner Mutter Blumen.) Ich nehme jetzt an, es ist davon auszugehen, dass die Frau die Mutter des Jungen sein soll? (Ich nicke.) Gut, dann dieses (korrekt) oder dieses Bild (Ablenker, hier pflückt der Junge die Blumen, die Frau steht versetzt hinter ihm…). Ich kann nicht sagen, ob der die Blumen an seine Mutter schenken wird…? Ich denke ja… Ah! Aber in dem Moment pflückt er sie ja erst, richtig? Ja, dann ist hier wohl das andere Bild gefragt.…
…
Ja, hätte ich die Tests nach den erforderlichen Normen durchgeführt (vorgegebene Dauer, keine weiteren Hinweise, etc.), dann wäre vermutlich das Ergebnis der Klinik herausgekommen- Sprachentwicklungsverzögerung, eingeschränkter Wortschatz, mangelndes Sprachverständnis.
Tatsächlich zeigte sich hier aber ein ausgesprochen wortgewandter, junger Mann, der eher einen zu großen als einen eingeschränkten Wortschatz hatte.
In Gesprächen brauchte er daher viel Zeit, um seine Gedanken zu sortieren und die am besten passenden Worte dafür zu wählen. Diese Zeit wurde ihm aber nie eingeräumt, Gespräche liefen meist ohne ihn weiter.
Die schulischen Inhalte werden meist sprachlich transportiert, Prüfungen finden schriftlich statt. Seine schulischen Leistungen spiegelten daher nie seinen wirklichen Wissensstand wieder, da er oft an den Fragestellungen in Tests und Klassenarbeiten scheiterte.
Die ewigen Zurückweisungen, die er unter anderem wegen seiner Schwierigkeiten, Gespräche zu führen und auf Fragen zu reagieren erfuhr, sorgten für wachsende Frustration, Selbstzweifel und Misserfolgserlebnisse. Seine Vorsicht im Formulieren nahm immer mehr zu, die Zeit, die eine Antwort erforderte, wurde immer länger - aus Angst, sich missverständlich auszudrücken oder etwas Falschen zu sagen.
Wir übten im weiteren Verlauf Kommunikation in sozialen Situationen. Zunächst nur zu zweit im geschützten Rahmen im Therapieraum und später im „echten Leben“. So bestellten wir Eis in der Eisdiele, fragten Passanten nach der Zeit oder dem Weg, etc..
Dieses Fallbeispiel soll zeigen, wie missverständlich mitunter selbst „valide“ Testergebnisse sein können.
Gerade für Autisten sind Testungen jeglicher Art oft schwierig und führen zu Ergebnissen, die nicht den wahren Leistungen entsprechen. Egal ob Tests zur Sprachentwicklung oder auch IQ-Tests oder andere.
Bild-Material ist nicht eindeutig oder zu detailreich. Fragestellungen sind missverständlich und zu vage. Testsituationen sind unangenehm, Räumlichkeiten und Personen unbekannt, es herrscht Zeitdruck…
„Prüfungen messen, was die Angst übrig gelassen hat.“ (Verfasser unbekannt)
Und da Angst leider ein häufiger Begleiter von Menschen aus dem Spektrum ist, ist das was in Testsituationen übrig bleibt manchmal nicht mehr viel… - was aber den wirklichen Fähigkeiten oft absolut nicht gerecht wird…
Es ist also stets anzuraten, Testergebnisse zu hinterfragen und ggf. im Sinne des „Getesteten“ anzuzweifeln.
In diesem Sinne: Bleibt neugierig aufeinander.
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