Heute stelle ich mal 3 Fallbeispiele vor, wie Autismus in der Schule aussehen kann…
Lest bis zum Ende - es wird eventuell überraschen…
Fall 1:
Ein Junge, 7 Jahre, Grundschule 2. Klasse
Der Schüler ist aufgeweckt, neugierig, sehr interessiert. Er pflegt Freundschaften, ist auch bei den Lehrern sehr beliebt. Sein Notendurchschnitt liegt deutlich über dem Klassenmittel und so bekommt er gegen Ende der Grundschulzeit auch eine uneingeschränkte Gymnasialempfehlung.
Sein Wunschgymnasium sucht er später bewußt aus. Hier recherchiert er beinah eigenständig, nimmt mehrere Schulbesichtigungen wahr und entscheidet sich schlußendlich wissenschaftlich anmutend für seine Traumschule.
Er ist insbesondere in Mathe und Naturwissenschaften sehr interessiert und begabt. Sein Berufswunsch: Pilot.
Er kann sich, obwohl zweisprachig aufwachsend mit Eltern, die noch immer mit starkem Akzent und eher nicht so gut deutsch sprechen, ausgesprochen gut mitteilen.
Seine schriftlichen Leistungen sind bemüht, er hat Schwierigkeiten mit der Graphomotorik, hält den Stift recht verkrampft und kann nicht lange schmerzfrei schreiben. Auch hier hat er aber schon früh Ideen und erklärt der Lehrerin, dass er ja später auch mit dem Computer schreiben könne. 😉
Fall 2:
Ein Junge, 12 Jahre, 7. Klasse Gymnasium
Der Junge ist unter den Lehrern bekannt als Störer. Er zeigt sich aufbrausend und aggressiv, geht Lehrer verbal und körperlich an, laut Berichten werden auch Tische und Stühle geworfen. Auch auf dem Schulhof ist er stets in Streitereien verwickelt und wird oft zum Rektor zitiert.
Aufgrund der Probleme wurde seitens der Schule bereits in der 5. Klasse eine Autismusdiagnostik angeregt, die sich bestätigte.
Die Leistungen im Unterricht sind durchgehend schlecht. Im Zwischenzeugnis zeigen sich mehrere 5en.
Er sitzt abseits im Klassenraum, neben ihm sein I-Helfer.
Es wurden bereits mehrere Klassenkonferenzen einberufen, den Eltern wurde mitgeteilt, dass ein Schulwechsel gewünscht wird.
Die Eltern, insbesondere die Mutter, leiden stark unter dem Verhalten des Kindes in der Schule und den damit einhergehenden Restriktionen. Die Mutter nimmt mittlerweile selbst psychologische Hilfe in Anspruch, sie ist verzweifelt.
Fall 3:
Ein Junge, 15 Jahre, 10. Klasse, Realschule
Der Schüler ist bei Mitschülern und Lehrern ausgesprochen beliebt. Er zeigt sich als wissbegierig, lernbereit, kognitiv sehr leistungsstark. Das Lehrerkollegium wählte ihn aufgrund seines hervorstechenden Interesses und breiten Wissens als Schülersprecher für den Bereich Naturwissenschaften. In dieser Position nimmt er an Konferenzen teil und wird nach seiner Meinung und seinen Ideen zu Inhalten im Unterricht im Bereich Naturwissenschaften befragt und angehört. Hier kann er tatsächlich Einfluß auf die Unterrichtsgestaltung nehmen.
Seine Zensuren liegen im obersten Bereich im Klassendurchschnitt.
Er pflegt feste Freundschaften innerhalb und außerhalb der Schule, treibt Sport. Er zeigt gute bis sehr gute schulische Leistungen und ist auf dem Weg, sein Abitur zu machen. Dies ist sein erklärtes Ziel.
Berufswunsch: Wissenschaftler (möglicherweise Bereich Atomphysik), Pilot
So, und was ist nun die angekündigte Überraschung?
Es handelt sich hier um ein und dasselbe Kind…
Kaum zu glauben, aber wahr.
Ich lernte ihn mit 12 Jahren kennen - zu der Zeit, als für die ganze Familie die Welt zusammenzubrechen schien.
Ich hatte seine Berichte gelesen und fragte ihn in der 2. Stunde, wann denn sein Bruder mal mitkäme - also der Junge, von dem in den Berichten aus der Schule die Rede sei… denn der junge Mann, der mir da gegenübersaß (höflich, neugierig, klug, eloquente Ausdrucksweise, höchst kooperativ, offen) konnte unmöglich derselbe sein wie der, von dem ich in den Berichten gelesen hatte (verbal und körperlich aggressiv gegen Lehrer und Schüler, kurz vor Schulverweis, mangelhafte Schulleistungen trotz Hilfen wie Nachteilsausgleich und I-Hilfe…) ….
Zunächst musste ich diese beiden Bilder für mich sortieren.
Was tun?
Er selbst wollte auf jeden Fall auf seiner Traumschule bleiben, die er sich so bewußt ausgesucht und auf die er so konkret hingearbeitet hatte. Schließlich hatte er ja konkrete Zukunftspläne. Zudem wollte er seine Freunde nicht verlieren…
Also machten wir uns gemeinsam auf den Weg und versuchten unser Möglichstes. Ich nahm Kontakt auf zu den Eltern, den Lehrern, der Rektorin, dem I-Helfer, der Autismusbeauftragten der Stadt, etc. Wir nahmen an einer weiteren Klassenkonferenz teil, aufgeregt aber hoffnungsvoll - bis zur 5. Minute in diesem Treffen. Da wurde unmissverständlich klar gemacht, dass der Schüler die Schule verlassen soll und man hier keine Zukunft für ihn sehe… Warum hatte man uns dann bitte eingeladen??? Die Stimmung in der Lehrerschaft war gruselig, geradezu feindselig, Aber nicht bei allen! „Nur“ bei denen, die ihn schon länger kannten (Hauptfächer). Diese Lehrer waren auch immun gegen Erläuterungen oder Hilfsangebote. Die Lehrer, die erst im letzten halben Jahr mit ihm zu tun hatten (Nebenfächer), beschrieben ihn als völlig anderen Schüler (wissbegierig, engagiert) - konnten sich aber gegenüber ihren eigenen Kollegen keinerlei Gehör verschaffen, wurden von diesen sogar eher belächelt.
Insgesamt also ein völlig frustrierendes Treffen, nach dem ich erst einmal heulend in meinem Auto saß.
Einzig positiv: Der Weg war nun klar! Nichts wie weg da!!!!!
Ich besprach die Möglichkeiten mit meinem Klienten. Wir erwogen alle „Fürs“ und „Widers“ und schließlich entschloss er sich ebenfalls für einen Schulwechsel. Dieser lief dann auch völlig konfus… (Hierzu gibt es vielleicht noch mal einen gesonderten Blog-Artikel)
Und heute bin ich auf ihn unendlich stolz, dass er diesen Schritt gewagt hat. Er selbst nennt ihn : „Die beste Entscheidung meines Lebens!“
Es war eine sehr intensive Zeit!
Wir haben gemeinsam eine Menge erlebt und gelernt!
Meine wichtigste Erkenntnis: Schulischer Erfolg ist maßgeblich von den einzelnen Personen abhängig! Davon, wie sehr sie bereit sind, sich auf ihre Schüler in all ihren Individualitäten einzulassen.
In diesem Sinne:
Bleibt neugierig aufeinander!
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