Dieser Artikel widmet sich der von mir oft gestellten Frage: "Wessen Bedürfnis ist das eigentlich?"
Es ist nicht verwunderlich, wenn erwünschte Ziele nicht erreicht werden können, wenn sie nicht dem Wunsch der betroffenen Person entsprechen.
Wir sind aufgefordert, gemeinsame Ziele zu entwickeln, auch wenn das bedeutet, dass wir uns dem "großen" Ziel manchmal nur in ganz klitzekleinen Schritten nähern können...
Kommt! Wir machen uns gemeinsam auf den Weg!
Zu Beginn einer jeden Beratung höre ich erst einmal zu und stelle Fragen. Gern frage ich: „Warum kommen Sie zu dieser Beratung? Was ist ihr Wunsch?“
Und häufig bekomme ich dann ganz konkrete Wünsche zu hören: „Er soll auch mal rausgehen - an die frische Luft.“ „Sie soll mit Freunden spielen - ach überhaupt Freunde finden…“ „Wir wollen mal gemeinsam auf Familienfeste gehen - bis zum Schluß!“
All diese Wünsche kann ich nachvollziehen! - Aber es sind eben meist „nur“ die Wünsche der Eltern oder der Bezugspersonen.
Sie möchten, dass ihr Kind „wie alle anderen“ draußen fangen, verstecken oder Vater-Mutter-Kind spielt. So wie alle, so wie sie selbst vielleicht früher… Und Bewegung an frischer Luft ist so wichtig! Und auch sozialer Kontakt! Denn: wer wären wir denn ohne Freunde?! Oder!?
Ja, für die meisten neurotypischen Menschen mag das auch stimmen.
Aber für Menschen mit einer neurodivergenten Wahrnehmung, für Autisten, AD(h)S´ler und Hochsensible sind diese Szenarien meist nur eins: sehr, sehr, sehr anstrengend und schlimmstenfalls eine völlige Überforderung, Überreizung.
Kommt ein autistisches Kind aus der Schule oder aus dem Kindergarten nach Hause hat es bereits unglaublich viele Reize und Eindrücke erleben und verarbeiten müssen.
Daneben gab es noch viele Dinge zu beobachten und zu lernen.
Da die Kinder nichts verpassen wollen sind sie sogar besonders aufmerksam, gönnen sich oft nur ungern und am liebsten freiwillig eigentlich keine Pausen. Sie laufen über viele Stunden geistig, seelisch und auch körperlich auf Hochtouren!
Wenn sie nach Hause kommen sind sie erschöpft und bräuchten die Freiheit, sich so zu erholen, wie es für sie am zielführendsten ist. Das kann oft völlig anders aussehen, als es sich ein neurotypischer Mensch für sich selbst aussuchen würde. Manch ein Kind möchte toben, manch eines möchte sich erst mal nur noch im dunklen Zimmer verkriechen.
Der Eine setzt sich sofort die Noise-Cancelling-Kopfhörer auf, für absolute Ruhe, der Andere dreht im Zimmer gleich 3-4 verschiedene Geräuschquellen gleichzeitig auf.
Ein Mädchen verkriecht sich erst mal im Mamas Arme und möchte ganz fest festgehalten werden, ein anderes Mädchen startet grußlos durch und legt sich erst mal allein und reglos ins eigene Bett.
Und was können die Erwachsenen da machen?
Hmm, am besten erst mal nichts.
Beobachten, lernen, akzeptieren.
Und ich weiß, wie schwer das ist!!!
Es ist so anders, es sieht manchmal so trostlos aus…
Aber versetzen wir und in die Wahrnehmungswelten der Autisten ist es einfach ein notwendiger Rückzug, ein „Auf Werkseinstellungen zurücksetzen“, wie es mal einer meiner Klienten (12 Jahre) genannt hat.
Die Kinder wissen meist instinktiv, was ihnen gut tut.
Wenn wir in diesen Momenten Forderungen stellen, andere Ideen zur Freizeitgestaltung anbieten oder gar einfordern, kann dies im schlimmsten Falle die dringend nötige Regeneration stören, zu weiteren Reizen und Eindrücken und im weiteren Verlauf womöglich zu einem Meltdown führen.
Und vermutlich haben das die meisten schon genauso erlebt!
Das Kind kommt aus der Schule, kann kaum einen Schritt vor den anderen setzen, wirkt bedrückt, möchte sich verkriechen. Aber das geht doch nicht! Mein Kind! Mein Schatz! Es soll ihm doch gut gehen!
„Hier: ich habe eine Überraschung geplant: Wir gehen in den Park, schauen den Skatern zu (das machst du doch immer so gern) und essen danach ein Eis. Na!? Tolle Idee, oder? Komm!!! Du kannst die Schuhe gleich angezogen lassen! Wir gehen gleich los!“
Statt Begeisterungsstürmen erntet man an dieser Stelle aber womöglich nur knallende Türen und lautes Schimpfen…
Und die Enttäuschung ist riesig - man stellt alles in Frage. „Liebt mich mein Kind überhaupt? Haben wir eine funktionierende Eltern-Kind-Beziehung? Nichts mache ich richtig….“
Kopf hoch! Der Weg ist nicht leicht. Es sind oft zwei verschiedene Welten, die da versuchen miteinander zu leben. Andere Kulturen, andere Sprachen… das will alles gelernt sein und das braucht Zeit. Selbst nach Jahrzehnten des Miteinanders ist man eigentlich stets „nur“ Gast in der Fremde und auch wenn man die Sprache mittlerweile nahezu akzentfrei beherrscht und sich in der Kultur gut eingefunden hat, werden immer wieder Verständnisschwierigkeiten aufkommen und scheinbare Alltäglichkeiten werden womöglich erneut zu großen Hürden.
Beobachten, lernen, akzeptieren ist also eine Haltung, die Personen, welche Autisten begleiten stets und immer versuchen sollten zu leben.
Denn nur so gibt es die Chance hinter die Kulissen zu blicken und zu verstehen.
Und nein, damit seid ihr keineswegs allein! Denn auch die Autisten beobachten, lernen und akzeptieren. Auch sie versuchen, die neurotypische Welt zu entschlüsseln und die vielen für sie merkwürdigen Regeln und Normen zu akzeptieren und ihnen wenn möglich etwas entgegenzukommen.
Daher:
Bleibt neugierig aufeinander.
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