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Janina Jörgens

Die "Null-Erwartungshaltung" - Teil 1: Für Aussenstehende


Fröhliches Kind in Rutsche


Oft empfehle ich „Außenstehenden“, also Therapeuten, Lehrern, Eltern, Erziehern usw., die „Null-Erwartungshaltung“.

 

Was meine ich denn nun wieder damit? 

 

„Ist jetzt alles egal oder was? Autismus ist eine lebenslange Behinderung, also nicht therapierbar - na, dann lassen wir´s halt!?“

 

Nein! Ganz und gar nicht!

 

Zwar ist Autismus eine Behinderung und stellt üblichenfalls eine lebenslange Diagnose dar, dennoch können mögliche störende Symptome gemeinsam bearbeitet werden und der Leidensdruck kann deutlich weniger werden.

 

Hierzu schauen wir in der Therapie oder Beratung gemeinsam, wo die größten, individuellen Schwierigkeiten im Alltag liegen und wie wir diese teils umgehen können oder aber auch lernen können, einen besseren Umgang mit Irritationen zu finden.

 

Einer der größten Schlüssel kann hier die „Null-Erwartungshaltung“ sein.

 

Warum? Heißt es nicht immer, man soll „fördern und fordern“?

 

Ja… aber da sind wir ja wieder bei „man soll…“.

 

Zum Einen funktioniert vor einem neurodivergenten Hintergrund „man“ meist nicht gut und „soll“ schon gar nicht…

 

Was bringt denn eine „Null-Erwartungshaltung“?

 

Sie bringt Ruhe - für alle Beteiligten!

 

Sie signalisiert dem neurodivergenten Menschen: „Es ist ok! Du bist ok!“

Welch Balsam für die oft schon in kleinstem Alter so geschundenen Seelen…

Sie haben schon (egal wie alt) so oft gehört und zu spüren bekommen, was sie alles nicht können, wie komisch, eigenartig, fremd und anders sie sind. Wie aufbrausend, gefühlskalt, hypersensibel, egozentrisch, gemein, unkooperativ….

Wie schön, nährend und kraftbringend ist es dann, wenn ich mich angenommen fühlen darf und Sicherheit vermittelt bekomme!?

 

Die „Null-Erwartungshaltung“ ist auch Balsam für die außenstehenden Personen. Die Erkenntnis „Ich muss nichts!“, ist auch für sie entlastend und erholsam! 

Denn oft genug entsteht der Druck im System, also nicht unbedingt durch einzelne Personen. Er entsteht durch „man macht“ und „man tut / man tut nicht…“. Sätze, die in so vielen Köpfen so fest verankert sind, dass sie gar nicht mehr hinterfragt, sondern womöglich als „allgemeingültig“ akzeptiert und propagiert werden. 

 

„Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht!“ - wenn ihr mir schon eine Weile folgt, hört und lest ihr den Satz hier nicht zum ersten Mal!!! ;-)

 

 

Die „Null-Erwartungshaltung“ bringt unerwartete Erkenntnisse.

 

„Null-Erwartung“ in der Therapie kann Dinge ermöglichen, die man niemals hätte evozieren können.

 

Durch die entstandene Ruhe und Druckfreiheit werden plötzlich Ressourcen frei und es können Fähigkeiten gezeigt werden, die unter „du musst jetzt…“ und „mach jetzt bitte…“ nicht mehr verfügbar waren, weil sich der neurodivergente Mensch zwischen maskieren („Ich gebe mein Bestes, um nicht wieder aufzufallen“) und Selbstschutz („OmG! Ich kann nicht, es ist alles zuviel! Wie komme ich aus der Nummer heil heraus!?“) komplett aufgerieben hat.

 

Plötzlich „kann“ der Mensch viel mehr! 

 

Auf einmal ist es möglich, sich ein paar Minuten mit einem Angebot zu beschäftigen, weil das Fluchtbedürfnis (Flucht vor zu viel Anforderung und Druck) nicht mehr da ist!

 

Vielleicht ist es erst durch eine gelebte „Null-Erwartungshaltung“ zum ersten Mal möglich, aufeinander zuzugehen, etwas Gemeinsames zu erleben, sich kennenzulernen!?

 

Ich habe in meinem Leben immer wieder beobachten dürfen, wie heilsam diese Grundhaltung ist.

 

Leider musste ich auch oft genug miterleben, wie sie von Außen angezweifelt und „schlecht geredet“ wurde. Tatsächlich auch mit solcher Vehemenz und Nachdruck, dass ich selbst ins Zweifeln geriet und entgegen besseren Wissens und Fühlens immer wieder auch andere Wege ausprobiert habe… allerdings ohne meine gewohnten Erfolge, daher habe ich diese „man macht“- und „man tut“-Ausflüge immer wieder schnell eingestellt! ;-)

 

Insbesondere, wenn ich mit Klienten mal schwierigere Phasen durchlebte, wurden die Rufe von Außen immer lauter. 

 

„Das kommt davon, wenn man die Kinder immer in Watte packt!“, „Macht mal das Konzept XY - das hilft!“, „Da muss man einfach mal konsequent sein!“, „Das Leben ist kein Ponyhof!“, und so weiter.

 

Wenn ich nun also mal einen dieser Wege ausprobierte… Was passierte? Genau: Es wurde nichts besser… Es wurde nur druckvoller… Und trauriger… Und anstrengender… Und wir entfernten uns voneinander…

 

Komplett bewusst wurde mir die Wirksamkeit der „Null-Erwartungshaltung“, wenn ich nach solchen „Experimenten“ völlig ausgelaugt und frustriert in die Einheiten ging, ratlos in der Ecke saß und meine Klienten in meiner gefühlten Hilflosigkeit erst einmal „einfach machen“ lies. Dann kamen sie auf mich zu, boten Aktivitäten an, luden mich ins Spiel und ins gemeinsame Handeln ein. Oder sie fragten: „Was ist los?“ und wir sprachen über Gefühle… - das waren Einheiten, die ich nicht besser hätte planen und gestalten können! ;-)

 

Mit „Null-Erwartung“ wird der Blick freier für (mitunter zufällige) Erfolge.

Wo keine Erwartung ist, kann auch keine Enttäuschung sein.

 

Macht euch frei, tolle Dinge erleben, beobachten und begleiten zu dürfen!

 

Ein „roter Faden“, ein grobes Ziel ist wichtig, damit man sich gemeinsam in eine gleiche Richtung bewegt. Aber wie ihr dahin kommt… lasst euch gern überraschen!

 

Bleibt flexibel und geht auch mal neue, bislang unbeschrittene Wege!

 

Bleibt neugierig!

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