Wie heilsam es ist, wenn einem diese Grundhaltung von außen entgegengebracht wird, konntet ihr schon im ersten Teil (Die „Null-Erwartungshaltung“ – Teil 1: Für „Außenstehende“) erahnen.
Hoffentlich konntet ihr auch schon Menschen erleben, die sie euch entgegenbrachten, die euch vorbehaltlos annehmen und akzeptieren konnten. Und zwar vollumfänglich.
„Es ist ok, Du bist ok. Egal was du heute mitbringst, alles darf sein und hat seine Berechtigung, ja sogar seinen Sinn!“
Fühlt sich toll an? Ich finde: Ja!
Du musst übrigens nicht unbedingt auf jemanden im Außen warten, der eine solche Haltung leben kann.
Du kannst sie dir auch selbst gönnen!
Bevor du nun stöhnst und sagst: „War klar… Die hat leicht Reden!“ - ja, ich weiß, das kann das Schwierigste von allem sein!!!
Dennoch ist es mehr als nur einen Gedanken wert! Wenn du magst, lade ich dich zu ein paar Ideen und Anekdoten ein.
Ich lebe seit 50 Jahren als neurodivergenter Mensch auf diesem Planeten. Meisterin im Maskieren, ausgezeichnet in den Themen „Selbstzweifel“ und „Perfektionismus“.
Und soll ich dir was verraten? Perfektionismus macht krank. Und handlungsunfähig.
Du kennst das! Du willst etwas tun, siehst die Aufgabe vor dir. Du beginnst alles bis ins kleinste Detail zu durchdenken, inklusive aller nur erdenklicher Möglichkeiten, was alles nicht funktionieren könnte…
Der Problem-Berg wächst und wächst und schließlich gibst du lieber kampflos auf, noch bevor du es versucht hast - denn die unendliche Anzahl von möglichen unlösbaren Problemen war einfach zu erdrückend… Und da ist es egal, was die eigentliche Aufgabe war…
Zimmer aufräumen, in den Schultag starten, einkaufen gehen, Doktorarbeit schreiben, sich für den Traumjob bewerben…
Perfektionismus ist oft der Grund, warum so viele Autisten weit unterhalb ihrer eignen Möglichkeiten bleiben und möglicherweise Opfer eines Bore-Outs werden (hierzu an anderer Stelle mal mehr!). Wie unendlich schade!
Doch auch in klitzekleinen Alltagsdingen kann es nicht schaden, weniger Erwartungen an den Tag zu legen!
Ich wollte zum Beispiel den gestrigen Tag nutzen und mit meinem Hund bei allerschönstem Winterwetter (dick verschneite Winterlandschaft und blauer Himmel) einen Waldspaziergang machen.
Wir packten uns warm ein und gingen los.
Mein Hund war vor Begeisterung völlig aufgedreht und zog oft wild an der Leine. Das hatte ich mir friedlicher und kooperativer vorgestellt…
Endlich im Wald angekommen, kamen wir - egal in welche Richtung - nicht weit… Überall waren durch die letzten Stürme Bäume umgefallen und versperrten nun den Weg…
Meinem Hund war´s egal! Sie schnüffelte weiterhin begeistert nach Wildspuren im Schnee, tobte herum und ließ sich kaum abrufen.
Anstatt mich an ihrer Freude zu freuen, wurde ich immer unzufriedener (vorsichtig ausgedrückt).
Ich rief sie barsch zurück und stapfte fluchend den schwierig begehbaren, weil eisigen Weg zurück.
Nix war´s mit dem ansonsten so idyllischen Rundgang durch den Wald…
„Nee…. Moment! So nicht!“, rief ich mich selbst irgendwann wieder zur Ordnung!
„Ich wollte in den Schnee… wir sind im Schnee… Die Sonne scheint, der Hund hat den Spaß seines Lebens! Ist es nicht völlig egal, ob im Wald oder auf dem Feld!?“
Also bogen wir ab auf ein riesiges, schneebedecktes und von menschlichen Fußspuren völlig unberührtes Feld.
Ein Funkeln von unzähligen Schneekristallen strahlte nur für uns in der Wintersonne um die Wette! Der Schnee stob auf, als mein Hund wie wild mit wehenden Ohren über die weiße Wiese sprang. Eiskristall glitzerten auf ihrem schwarzen Fell. Ich lief mit ihr um die Wette, stolperte, da ich einen Graben im tiefen Schnee nicht erahnen konnte, blieb lachend liegen und machte einen „Schnee-Engel“! Mein Hund kam neugierig angelaufen, warf sich neben mich in den Schnee und begann, sich zu wälzen! Ich lachte, dass mir die Tränen in die Augen stiegen.
Wir sind anschließend fast noch eine ganze Stunde über dieses Feld gelaufen, auf und ab. Ich bewunderte Kristalle auf kahlen Ästen, die sich in allen Farben schillernd gegen die Sonne vor dem blauen Himmel abhoben, mein Hund stöberte unter der Schneedecke nach Mäusen.
Wir hatten einen Riesenspaß - auch ohne den zunächst erwarteten Rundgang durch den Wald!
Insbesondere im privaten Leben fällt mir die „Null-Erwartungshaltung“ in Bezug auf mich selbst oft außerordentlich schwer.
Wenn ich aber bedenke, wie oft ich mir mit meinem Perfektionismus das Leben selbst schwer gemacht und mich so oft selbst begrenzt habe… dann bin ich umso glücklicher, dass wir Menschen lernfähig sind.
Nun stoppe ich mich immer schneller und ganz bewusst, wenn ich merke, wie Wut, Enttäuschung oder auch Erschöpfung in mir aufsteigt. Und wenn ich dann hinterfrage, wo diese Emotion gerade herkommt, dann war ich es meistens selbst, die diese Gefühle provoziert hat. Meist hat sich dann etwas anders entwickelt, als ich mir das vorgestellt hatte…
Dann hilft mir ein: „Na und!?“. Denn oftmals kann man sich an dem, was stattdessen passiert, auch freuen, man kann daraus lernen, man kann vielleicht Neues entdecken. Und das muss nicht schlecht sein.
Erwartungen können limitieren, begrenzen.
Vielleicht verpasse ich meinen Seelenpartner, weil er nicht meinen optischen Erwartungen entspricht? Vielleicht schreibe ich nie den Roman, den ich im Kopf habe und eine ähnliche Geschichte eines anderen Autors wird ein Bestseller?
Vielleicht führt mich eine nervige und zeitraubende Umleitung zu wunderschönen, bislang unbekannten Landschaften? Vielleicht entdecke ich ein neues, tolles Hobby, weil der eigentlich geplante Kurs ausgebucht war und ich einer anderen Veranstaltung zugewiesen wurde?
Ist euch Ähnliches auch schon passiert? Wann hast du dich zuletzt geärgert, weil etwas nicht so gelaufen ist, wie du dir das vorgestellt hattest?
Wann hast du zuletzt etwas Tolles, aber Ungeplantes erleben dürfen?
Bleibt neugierig!
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