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Ein Spickzettel für´s Essen

Janina Jörgens

Notizblock und Kartoffeln


Dirk, 42 Jahre alt, hat einen Spickzettel fürs Essen. Diesen haben wir in der Therapie gemeinsam erarbeitet.

 

Dirk ist spätdiagnostiziert. Er bekam seine Autismus Diagnose erst mit 39 Jahren. Bereits seit seinem sechsten Lebensjahr hat er die Diagnose ADHS.

 

Essen bereitet Dirk Schwierigkeiten, seit er denken kann.

 

„Ich weiß noch, dass mir als Kind zu Hause ständig Menschen hinterher liefen, mit irgendwas zu essen oder zu trinken in der Hand. Aber das Leben war doch so spannend. Essen war eine der Anforderungen, die mein Körper an mich stellte, die mir schon immer richtig auf die Nerven gegangen sind.“

 

Dirk ist dünn, dennoch ist sein Körper gut trainiert, da er sich ständig und viel bewegt.

 

Aber essen?

 

„Ich weiß, dass Essen zum Leben dazugehört und wenn ich leistungsfähig bleiben möchte, muss ich da ständig drauf achten. Ich war mittlerweile dreimal in der Klinik mit verschiedenen Diagnosen. Aber irgendwie ging’s am Ende immer ums Essen…“

 

Dirk kann einfach nicht immer essen.

Dirk kann auch nicht alles essen.

 

Wir arbeiten gemeinsam heraus, unter welchen Umständen und was Dirk am besten essen kann.

 

Tatsächlich dauert es mehrere Wochen, bis wir diesen Plan vollständig vor uns liegen haben. 

Dirk hat in dieser Zeit verschiedene Settings und sogar einige Nahrungsmittel regelrecht wissenschaftlich für sich auf Tauglichkeit erprobt.

Er führte in der ganzen Zeit ein Tagebuch. Hier trug er gewissenhaft ein, wann er was, wo, mit wem gegessen hat und wie seine Stimmung in dem Moment war. Jedes Setting bewertete er im Anschluss mittels einer Skala von eins („ganz schlimm“) bis zehn („perfektes Setting“).

 

So konnte Dirk für sich entdecken, dass er am besten allein essen kann. Am besten gelingt es ihm, wenn er im Wohnzimmer auf dem Fußboden sitzt. Er lehnt sich an sein Sofa an. Das Essen steht vor ihm auf dem niedrigen Wohnzimmertisch. Am liebsten sitzt er im Schneidersitz, und währenddessen läuft eine ihm bekannte Fernsehserie.

 

Insgesamt also ein Setting, welches man bei erwachsenen, neurotypischen Personen vielleicht eher seltener finden dürfte. Für Dirk jedoch ist dies die perfekte Art, Nahrung zu sich nehmen zu können.

 

Zudem hat Dirk festgestellt, dass auch die von ihm akzeptierten Nahrungsmittel tatsächlich nicht immer zu jeder Zeit in jedem Setting die gleichen sind.

 

So liebt er z.B. gekochte Kartoffeln. 

ABER:

- Nur eine bestimmte Sorte

- Keine Keimansätze oder dunkle Flecken auf der Schale

- Nur zu Hause

- Nur als Hälften geschnitten

- Nur frisch (bloß nicht aufgewärmt!!!)

- Nur in einer ganz bestimmten Konsistenz

 

Sollte die Konsistenz mal nicht 100% gelingen oder mal Kartoffeln übrig bleiben, hat er für sich eine weitere Verwendung als Auflauf entdeckt. Aber: das klappt dann auch nicht immer… Manchmal bleibt das „aufgewärmte-Kartoffel-Aroma“ und er kann den Auflauf nicht essen. Doch auch hier hat er eine Möglichkeit gefunden, um das Essen nicht in den Müll werfen zu müssen. Über ihm wohnt eine junge Familie, welche sich stets über von Dirk verschmähte Nahrungsmittel freut.

 

Essen ist für Dirk eine sehr stressanfällige Sache.

Steht er unter Stress, kann er kaum Nahrung zu sich nehmen.

Wenn er merkt, dass Nahrungsaufnahme mal wieder schwieriger ist als sonst, setzt ihn das unter Stress. Ein manchmal wirklich nervenaufreibender Teufelskreis.

 

Was ihm dann helfen kann, sind seine Safe-Foods.

 

Damit Dirk im Falle eines Falles nicht auch noch erst überlegen muss, was er jetzt essen könnte, hat er sich einen Spickzettel angefertigt.

 

Hier hat er verschiedene Nahrungsmittel aufgelistet, die er gerne mag, und die er gegebenenfalls auch mitnehmen kann.

 

Auf diese Weise kann Dirk nun auch Nahrungsmittel zur Arbeit oder auch zu Einladungen mit Freunden mitnehmen.

Wenn er in solchen Situationen gestresst sein sollte oder das angebotene Essen für ihn nicht essbar ist, hat er immer noch seine Safe-Foods dabei, um seine Leistungsfähigkeit zu jederzeit zu erhalten.

 

Und für den allerschlimmsten Fall, Momente, in denen ernährungstechnisch scheinbar gar nichts mehr geht, greift Dirk auf Flüssignahrung zurück. Diese hat er durch Zufall bei einem Arbeitskollegen entdeckt, der aufgrund einer Zahn-OP für fast zwei Wochen auf feste Nahrung verzichten musste.

Dieses Produkt kann man im Supermarkt kaufen und es gibt verschiedene Geschmacksrichtungen. Auch hier hat Dirk bereits seine Highlights ausfindig gemacht und achtet sorgsam darauf, dass er immer einen ausreichenden Vorrat bei sich zu Hause hat. Und auch, wenn Dirk unterwegs ist, ist es für ihn ausnehmend beruhigend zu wissen, dass er sich diese Flüssignahrung zu beinah jeder Zeit im Supermarkt holen kann.

 

„Der eine oder die andere mag bei diesen Berichten denken: „Hach, das ist aber kompliziert!“

 

Und was sagt Dirk dazu?

„Hach, endlich ist essen nicht mehr so ein kompliziertes Thema!“

 

So unterschiedlich sind die Menschen! ;-)

 

In diesem Sinne: bleibt neugierig!

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