Jens, 22 Jahre, Autist, fragte mich im Coaching verzweifelt: „Wie geht „feiern“? Wie kann man das einigermaßen unbeschadet überstehen? Ich glaube, ich brauche eine Party-Anleitung!“
Tatsächlich erlebte Jens als Student es als schwierig, nicht an den diversen Feierlichkeiten teilnehmen zu können. Von Erstsemester-Partys über kleinere Grillfeste zu Geburtstagen der Kommilitonen, Feiern im Wohnheim zu Ein- oder Auszügen, ein Umtrunk zu bestandenen Prüfungen… All diese Aktivitäten waren für ihn unglaublich anstrengend - deutlich anstrengender, als das Studieren an sich. Hier sollte erwähnt werden, dass Jens 2 Studiengänge parallel absolvierte - einer allein wäre ihm „zu eng“ gewesen. ;-)
Tja: Wie geht „feiern“?
Eine gute und absolut gerechtfertigte Frage, die leider nur selten gestellt und noch seltener beantwortet wird…
Sie wird selten gestellt, weil neurotypische Menschen „einfach“ feiern gehen - ohne dies zu hinterfragen, ohne danach für Tage und Wochen erschöpft zu sein. Neurotypische Menschen sehen „feiern“ als Entspannung, als „Auszeit“ vom stressigen Alltag.
Neurodivergente Menschen gehen meist nicht „einfach“ feiern…
Soziales Miteinander ist anstrengend.
Hier braucht es möglicherweise eine gute Vorbereitung. Wo hast du im sozialen Miteinander Schwierigkeiten? Small Talk? Überlege dir mögliche geeignete Themen, über die du sprechen könntest. „Übe“ Small Talk mit Menschen, die dich gut kennen und denen du vertraust.
Soziale Regeln sind nicht immer klar und eindeutig, werden selten erklärt.
Stelle alle deine Fragen an jemanden, dem du vertraust. Fragen wie z.B.: Muss ich auf einer Party jeden begrüßen? Wann kann ich eine Party verlassen? Muss ich mich den ganzen Abend lang mit denselben Leuten unterhalten? Wie kann ich eine Unterhaltung verlassen, an der ich kein Interesse habe? Wenn es ein Buffet gibt, wie oft darf ich dort hingehen und mir etwas zum essen nehmen?
Die Zeit, in der gefeiert wird, steht als mögliche Regenerationszeit nicht zur Verfügung.
Diese Kosten-Nutzen-Rechnung kann und darf man als neurodivergenter Mensch im Vorfeld gern bewusst durchrechnen. Gehe die Tage oder auch Wochen vor und nach der Party durch und schaue, wo weitere Anforderungen auf dich warten. Schaue auch, wo du welche Art von effektiver Erholung für dich einplanen kannst. Nimm vielleicht an den Tagen vor einer Einladung bewusst einige Termine weniger wahr und plane mehr Zeit für dich ein. Das kann auch nach einer Party sinnvoll sein, um dich wieder zu erholen.
Tatsächlich begleitete uns die individuelle „Party-Anleitung“ für Jens beinah ein halbes Jahr.
Jens wählte zu Beginn die Themen „Small Talk“ und „Rückzugsstrategien“.
Für den Small Talk entwarfen wir eine „Themen-Karte“ - ähnlich wie eine Speisekarte im Restaurant. Diese druckte Jens sich im Mini-Format für die Hosentasche aus und trug sie stets bei sich. So konnte er jederzeit bei Bedarf einen Blick auf die Themen-Ideen werfen und nach und nach gelang es ihm, selbst Gespräche anzustoßen oder/ und sich an ihnen zu beteiligen.
Das Thema der Rückzugsstrategien erwies sich als durchaus umfangreich.
Hier ein paar Auszüge:
Jens legte für sich Kriterien fest, welche Feiern er lieber allein und welche er mit Begleitung besuchen wollte.
Begleitungen wussten von Jens und seiner Diagnose. Sie konnten helfen, wenn es für Jens doch mal zu viel wurde, er sich zurückziehen wollte. Sie konnten das Verhalten von Jens erläutern, wenn er selbst es mal nicht konnte. Sie konnten die „Frühwarnzeichen“ sicher erkennen und dafür sorgen, dass er nicht in zu großen Stress geriet und sich rechtzeitig Pausen gönnte.
Jens entwarf eine Strategie, wie er „Stressoren“ und „Erholungsphasen“ in seinem Kalender gut sichtbar machen konnte. So lernte er, wie er aktiv für Ausgleich in stressigen Zeiten sorgen konnte und konnte mit seinen Kraftreserven besser haushalten.
Er lernte sich mit der Zeit immer besser kennen und lernte, wie er sich selbst gut beobachten konnte.
Er stellte sich seinen Handywecker auf Partys alle halbe Stunde - mit Vibrationsalarm, sodass es außer ihm niemand mitbekam. Für ihn war das das Zeichen, einmal kurz die eigene Befindlichkeit zu checken: Geht es mir gut? Habe ich genug gegessen und getrunken? Bin ich müde? Macht mir die Party noch Spaß? Nach diesem kurzen Check entschied er, ob er noch auf der Party bleiben mochte, ob er irgendwelchen Bedürfnissen nachkommen sollte, oder ob es Zeit für den Heimweg ist.
Und wir übten den „Party-Rückzug“. Wir schrieben Floskeln auf, mit denen man sich höflich von einer Party verabschieden kann. Jens informierte die Gastgeber bereits vor der Party von dem Zeitpunkt, zu dem er die Party verlassen würde. Je nachdem, wer der Gastgeber war, erklärte Jens dies über seine Diagnose oder er gab nur „wichtige Termine“ vor - denn die eigene Erholung ist wichtig!!!
Ganz viele Themen und Situationen kann man leider nicht im Voraus planen und besprechen… Daher ist es wichtig, sich auch in den Situationen an sich genau zu beobachten und Fragen für das nächste Mal zu sammeln.
Schreibt euch also gern auch nach einer Feier mal auf:
Was hat mir Freude gemacht?
Was war für mich sehr schwierig?
Was hat mich am meisten gestresst?
Was hätte mir in der Stresssituation möglicherweise geholfen?
Was möchte ich beim nächsten Mal ausprobieren/ besser machen?
Was genau braucht ihr, um euch auf einer Party wohl fühlen zu können?
Bleibt neugierig!
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