„Ach warte mal ab! Das kommt schon noch!“
Tanja sitzt genervt am Kaffeetisch mit ihrer Familie und Tante Anne erzählt begeistert von ihrem neuen kleinen Enkelchen.
Tanja selbst möchte keine Kinder haben - aber diesen Wunsch kann ihr Umfeld offensichtlich nicht einfach so akzeptieren.
Weder in ihrer Familie noch im Büro kann sie dem Thema auf Dauer entkommen.
„Na, wie alt bist du jetzt? 29? Na… da wird es aber schon mal langsam Zeit, oder???“
Dabei hat Tanja sehr viele, sehr persönliche und sehr gute Argumente für ihren Wunsch… (Und mal so nebenbei - ist es nicht irgendwie komisch, dass man den Eindruck hat, sich für seine Wünsche rechtfertigen, diese begründen zu müssen…? Insbesondere für solch individuellen Lebensentscheidungen….)
Tanja möchte ihren Körper für sich haben und behalten - sie kann es sich nicht vorstellen, einen kleinen Menschen im eigenen Bauch zu „produzieren“, wie sie selbst sagt. Die Veränderungen, die ein Körper während einer Schwangerschaft durchmacht, findet sie unvorstellbar unerträglich, ja gar eklig. Der Gedanke an die Geburt versetzt sie nahezu in Panik.
Zudem kann sie sich nicht vorstellen, für einen anderen Menschen sorgen zu müssen. Denn oft genug hat sie das Gefühl, für sich selbst nicht gut genug sorgen zu können, vom Leben überfordert zu sein.
„Ja, aber - du arbeitest doch mit Kindern? Wie geht das, wenn du Kinder nicht magst!“
Moment!!! Keiner hat gesagt, dass Tanja keine Kinder mag! Tanja liebt Kinder!!! Aber es ist für sie wichtig, diese nach der Arbeit wieder in ihr jeweiliges Zuhause abgeben und wieder Zeit für sich selbst haben zu können.
„Ich wäre vermutlich zu eigenen Kindern total unfair… einfach weil meine Batterien nach der Arbeit leer sind. Da würde mich dann vielleicht der kleinste Pieps auf die Palme bringen…“
Tja, und weil neurodivergente, autistische Menschen gern zum Overthinking neigen und sich über alles genaueste Gedanken machen, ist sich Tanja der Verantwortung für einen Menschen sehr bewusst!
Da stürzen alle Gedanken auf einmal herein:
Wie könnte ich es verantworten, in diese Welt überhaupt einen Menschen zu setzen?
Wie lange wird es unsere Welt so überhaupt noch geben?
Was kann nicht alles schief gehen in Schwangerschaft und Geburt?
Wie soll ich die vielen Arzttermine aushalten?
Wie soll ich Windeln wechseln können? Ich kann den Geruch nicht ertragen!
Wie soll ich 3-Monats-Koliken aushalten? Ich bin so geräuschempfindlich!
Könnte ich mit einem Kind umgehen, wenn es eine Behinderung hat?
Würde ich meinen Autismus „vererben“?
Könnte ich meinem Kind eine bessere Mutter sein, als es meine eigene für mich war?
Schwangere Personen werden ständig angestarrt und angequatscht - ich möchte das nicht! Soll ich dann 9 Monate in der Wohnung bleiben?
Und dann soziales Geplänkel bei Geburtsvorbereitung, in Krabbelgruppen, Schwimmkurs, bei Kindergeburtstagen? Nein danke.
Wie könnte ich mein Kind auch nur ansatzweise „neutral“ in das Schulsystem geben?
Wie soll ich in der Pubertät mit Körpergerüchen meines Kindes umgehen?
Und so weiter…
Und dennoch war ihre Mutter vollkommen schockiert, als Tanja ihr mit 17 Jahren ganz begeistert erzählte, dass sie sich mit 18 sterilisieren lassen wollte…
Tanja ist mit ihrem ganz bewussten „Nicht-Kinderwunsch“ auch wahrhaftig nicht allein!
So viele meiner Klienten und Klientinnen haben eine solche Lebensplanung! Sie machen sich genaueste Gedanken und wägen sachlich und bewusst ab.
Und ganz ehrlich? Ich finde es toll, wenn solch weitreichende Entscheidungen ganz bewusst getroffen werden! In welche Richtung auch immer!
Und nochmal, damit das nicht in den Hintergrund gerät: Keine eigenen Kinder haben zu wollen bedeutet nicht, keine Kinder zu mögen!!!
Bleibt neugierig!
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