Wenn neurodivergente Menschen mit ihrer oft hochsensiblen Wahrnehmung hadern, weil sie ihnen möglicherweise mehr Probleme als Vorteile bietet, werden oft Alternativen gesucht und angeboten.
Diese Alternativen sollten sich selbstverständlich nach dem „Problembereich“ richten, den man als solchen entlarvt hat.
Das klingt allerdings logischer, als es sich in der Praxis manchmal anfühlt…
Nehmen wir zum Beispiel Kim, ein Mädchen von 7 Jahren, die ein hochempfindliches Gehör hat. Sie hört Frequenzen, die für die meisten ihrer Mitmenschen als „unhörbar“ gelten. Selbst leise Geräusche empfindet sie als sehr störend, ein Gewirr aus verschiedenen akustischen Reizen kann sie leicht überfordern.
Im Kindergarten konnte Kim sich immer wieder mal in eine ruhige Ecke zurückziehen, hatte zwei, ebenfalls „leise“ Freundinnen, mit denen sie sich meist beschäftigte.
In der Schule allerdings sieht das nun leider anders aus. 26 Kinder in einer Klasse, darunter einige echte „Rabauken“, keine Rückzugsmöglichkeiten, eine schrille Pausenklingel, ein sehr großer Schulhof, auf dem immer Kinder sind, die Fangen oder Fußball spielen…
Kim leidet.
Ihre Lehrerin bietet ihr Kopfhörer an. Kim lehnt sie ab.
Ihre Lehrerin zeigt ihr den kleinen Nebenraum, den Kim für stille Aufgaben nutzen könnte. Kim lehnt es ab, in den Raum zu gehen.
Nun sind die Ideen bzgl. möglicher Hilfestellungen meist ausgeschöpft, die Lehrerin ist ratlos. Kim muss sich an die Umgebungsgeräusche „gewöhnen“.
Da Kim das aber nicht schafft, da sie ihr Gehör nicht bei Bedarf „abschalten“ kann, lernt sie zu maskieren, den Schulalltag „irgendwie“ auszuhalten und gerät dann zu Hause immer häufiger in Meltdowns oder gar Shutdowns.
Wenn Alternativen gesucht werden, genügt es häufig nicht, diese zu finden und „mal eben“ anzubieten.
Selbst die beste Alternative ist zunächst mal neu und es braucht ggf. etwas Zeit zur Gewöhnung.
Wenn Alternativen zunächst abgelehnt werden, heißt das nicht, dass die Alternative an sich eine schlechte Idee oder nicht passend wäre.
Findet bestenfalls gemeinsam heraus, warum die Alternative abgelehnt wird.
Auch hier ist wieder kreatives „Um-die Ecke-denken“ gefragt!
Kopfhörer zum Beispiel dämmen ja alle Geräusche von außen.
Allerdings auch die Geräusche, die man ja eigentlich hören will und muss! So haben viele Menschen dann die Sorge, womöglich auch Wichtiges zu verpassen!
Und auch, wenn ein Kopfhörer zwar störende Geräusche von außen dämmt, so verstärkt er leider gleichzeitig alle Geräusche, die der Körper selbst macht (Magengluckern, Schlucken, Atmen…) oder auch alle Geräusche von Dingen, die die Kopfhörer berühren, wie zum Beispiel der Kragen oder die eigenen Haare….
Das kann sehr eigenartig sein und dazu führen, dass man doch lieber die zwar störenden aber immerhin bekannten Geräusche von außen bevorzugt…
Kopfhörer können auch unangenehm am Kopf drücken, zu warmen Ohren führen, komisch riechen… Oder man fragt sich, wer die Kopfhörer vielleicht schon angehabt hat und ob das nun dem eigenen Hygieneempfinden entspricht…
Die Ablehnung des Angebotes, den Nebenraum zu nutzen, kann auch verschiedene Begründungen haben…
Vielleicht auch hier die Angst, etwas Wichtiges zu verpassen.
Es kann auch sehr unangenehm sein, eine „Sonderposition“ zu haben - schließlich will man ja eigentlich dazu gehören. Kim sagte später einmal: „Wie soll ich Freundinnen finden, wenn wir im Unterricht in zwei verschiedenen Räumen sitzen?“
Es kann auch sein, dass der Nebenraum ungemütlich ist, kein Fenster hat, es muffig riecht, es zu kalt oder zu warm ist….
… oder, dass man nicht weiß, wie man um Hilfe bitten soll oder Fragen stellen soll, wenn man so abgesondert sitzt…
Vielleicht werden Alternativ-Angebote auch generell erst einmal abgelehnt, weil es wieder Anforderungen von Außen sind. „Nun nimm doch die Kopfhörer!“ Wenn eine sehr direkte Ablehnung ausgesprochen häufig zu beobachten ist, empfiehlt es sich evtl. in Richtung PDA (pathological demand avoidance) zu schauen.
Oder, oder, oder… es gibt so viele, individuelle Gründe, warum selbst großartige Alternativen erst mal abgelehnt werden.
Was also tun?
Geduldig sein. Zeit geben. Alternativen aufzeigen, aufschreiben/visualisieren, anbieten, als „Selbstbedienung“ zur Verfügung stellen.
Und wenn sie dann doch mal ausprobiert werden - sich einfach still freuen!
Bitte kein: „Na, siehst du, war doch jetzt gar nicht so schlimm, oder? Hab´ ich dir doch gleich gesagt…“
Schaut also genau hin: Was bereitet Schwierigkeiten? Was könnten mögliche Hilfen sein? Wo könnten Schwierigkeiten in den Hilfen sein?
Bestenfalls gebt ihr euch gemeinsam auf Lösungssuche! Auch, wenn es evtl. etwas länger dauern sollte, bis ihr die passende Hilfe gefunden habt!
Bis dahin hilft nur fragen, ausprobieren, anbieten und geduldig sein.
Bleibt neugierig aufeinander!
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