Während der Überlegungen zu „Barrieren in der Erfüllung von Grundbedürfnissen“ habe ich mich gefragt, welches „das Eine“ Grundbedürfnis sein könnte, welches wirklich alle Menschen haben…
Denn selbst die angenommenen Grundbedürfnisse wie essen, trinken, schlafen, Gesundheit, Gesellschaft und so weiter, stammen ja eher aus den Überlegungen und Empfindungen neurotypischer Menschen.
Also heißt es schnell: „Jeder Mensch muss…“ oder „Alle Menschen wollen…“.
Das bedeutet aber noch lange nicht, dass diese Bedürfnisse auch von neurodivergenten Menschen in dieser Selbstverständlichkeit geteilt würden.
Angelächelt oder in den Arm genommen zu werden ist für viele Menschen angenehm - für viele andere jedoch ist es ein Graus!
Viele neurodivergente Kinder scheinen mit deutlich weniger Schlaf bestens zurechtzukommen.
Viele Autisten nehmen Probleme, die eine einseitige Ernährung mit sich bringen mag, scheinbar billigend in Kauf - einfach, weil sie „gesündere“ Lebensmittel einfach nicht essen können!
Schließlich kam mir „Sicherheit“ als Begriff in den Sinn.
Ich denke, alle Menschen wünschen sich ein gewisses Maß an Sicherheit.
Denn nur ausgehend von einem möglichst sicheren Fundament kann man in Ruhe versuchen, das Leben mit all seinen Abenteuern anzugehen.
Ich kann mich eher an Neues heranwagen, wenn ich die Sicherheit habe,
jemanden bei mir zu wissen, der mir im Notfall hilft.
dass ich meinem Körper vertrauen kann.
dass ich meinen Sinnen vertrauen kann.
dass ich Zeit genug bekomme, mich in den neuen Situationen zurechtzufinden und auszuprobieren.
dass mögliche Fehler meinerseits nicht bestraft werden.
Wenn ich mit meinen kleinen und großen Klienten spreche, kommen ganz viele schlimme Erfahrungen zutage.
Berichte von Mobbing, von Übergriffen (kleinen und großen), von „nicht ernst genommen werden“, von ungerechtfertigten Schuldzuweisungen und, und, und.
Und all diese Erfahrungen führen bereits bei meinen jüngsten Klienten zu massiver Verunsicherung.
Sie mussten vielleicht bereits erfahren, dass ihre Grenzen nicht gewahrt werden, ihre Bedürfnisse nicht erkannt und/oder erfüllt werden, dass ihre Empfindungen „falsch“ sind, dass sie zu sensibel oder zu laut, zu egoistisch, zu fordernd, zu anstrengend seien…
Sie fühlen sich abgelehnt, unverstanden, nicht gesehen und nicht geliebt.
Und dann kommen neurotypische Menschen daher und fordern „Also, er muss sich auch mal an andere Kinder anpassen.“, „Sie müssen mal rausgehen und neue Menschen kennenlernen!“, „Stell dein Licht nicht unter den Scheffel!“.
Ja - aber wie?
Das ist alles nicht so einfach, wenn man sein Leben lang nur zu hören und zu spüren bekommen hat, dass man anders ist und nirgendwo so richtig hinpasst - zumindest nicht einfach so, nicht so, wie man nun mal ist.
All diese Menschen müssen erst mal abgeholt werden und dürfen Stück für Stück lernen: Du bist ok!
Das Sicherheitsbedürfnis wird deutlich durch Maßnahmen wie z.B. Stimming.
Ritualisierte Verhaltensweisen, Muster, Pläne, Routinen - all das kann Sicherheit vermitteln in einer äußerst verwirrenden, oft wenig kooperativen Welt…
Auch das sogenannte „herausfordernde Verhalten“ kann eine Sicherheit herstellen. Durch Schlagen, Kratzen, Beißen, Spucken, Rückzug, Verstummen, usw. kann man sich andere Menschen, die die eigene Sicherheit ins Wanken bringen, ganz hervorragend fernhalten…
In der auffälligsten Ausprägung zeigen Menschen mit PDA-Profil dieses Grundbedürfnis auf.
Sie versuchen stetig, ihre eigene Autonomie zu wahren, fühlen ihre eigene Sicherheit schnell als gefährdet durch Anforderungen aller Art.
Da sie diese Angst und Panik schon lange mit sich tragen und schon lange versuchen, ihre Sicherheit zu wahren, haben sie auch schon über lange Zeit und immer wieder die entsprechenden Restriktionen im Außen erleben müssen - und jede einzelne davon hat die sowieso schon kaum vorhandene Sicherheit erneut massiv ins Wanken gebracht und das Vertrauen in die Menschen jedes Mal auf´s Neue erschüttert…
Wir brauchen also viel Verständnis und Geduld, um zunächst das Vertrauen unseres Gegenübers zu erlangen, dass wir gemeinsam eine Sicherheit aufbauen wollen. Wir müssen es schaffen zu vermitteln, dass wir das gemeinsam schaffen können.
Wir dürfen akzeptieren, wenn dieses Angebot nicht sofort begeistert angenommen, sondern zunächst womöglich misstrauisch beäugt wird, wenn wir als Person getestet werden.
All das ist verständlich, wenn wir die bisherigen Erlebnisse unseres Gegenübers bedenken.
Bleibt engagiert, verbunden und neugierig.
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