Katrin sitzt mit gesenktem Kopf vor ihrem PC.
Sie ist über unseren Stammtisch auf mich aufmerksam geworden, hat nach Monaten des Grübelns allen Mut zusammengenommen und einen Termin für ein Beratungsgespräch mit mir vereinbart.
„Tja - und was hilft mir nun die späte Diagnose? Jetzt sitze ich hier seit einem knappen Jahr und habe das Gefühl, es wird alles nur immer schlimmer!!!“
Leider ist Katrin das widerfahren, was so viele spät diagnostizierte Autistinnen und Autisten erleben… Zwar war die Diagnosestellung erfolgreich, endlich hat man einen Namen, eine Erklärung, für sein „AndersSein“…- aber was dann? Gerade für Erwachsene gibt es oft kaum passende Anschlussangebote…
Erhalten Kinder eine ASS-Diagnose, setzt sich beinah automatisch (die Betonung liegt auf „beinah“) das Hilfesystem in Gang, es werden bei Bedarf Verordnungen ausgestellt für Logopädie, Ergotherapie, Motopädie, Physiotherapie, Anträge gestellt für einen Schwerbehindertenausweis, für die Ermittlung eines möglichen Pflegegrades, für Leistungen wie Schulbegleitung, Autismustherapie, Alltagsbegleitung, familienentlastenden Dienst usw..
Aber als erwachsene Person?
„Sprechen kann ich!“, witzelt Katrin. „Logopädie brauch ich also schon mal nicht…“
Das stimmt. Als mittlerweile erwachsener Mensch hat man viele Meilensteine bereits gemeistert, braucht hier keine Hilfen mehr.
Im Gegenzug haben sich aber womöglich ungünstige Verhaltensweisen eingeschlichen - Thema: Maskieren.
Hier braucht es womöglich Unterstützung, diese zu entlarven und zu erarbeiten, wie man vielleicht behutsam mit einer Demaskierung beginnen kann, um Ressourcen zu schonen.
Denn viele erwachsene Personen, insbesondere Frauen, erhalten ihre späten Diagnosen erst nach Zusammenbrüchen wie Burnout und Depressionen…
Sie sind oft jahrzehntelang, ohne es zu wissen, über ihre Grenzen gegangen, haben „Raubbau“ am eigenen Körper und er eigenen Seele begangen.
Nun, nach einer Diagnose, müssten sie erst mal „aufgefangen“ werden, müssten die Gelegenheit erhalten, die Diagnose in ihr Leben zu integrieren, diese zunächst zu akzeptieren.
„Ich bin doch jetzt nicht auf einmal ein behinderter Pflegefall…“
Welche Hilfen es hinsichtlich Ämtern, Alltagsunterstützung, Finanzierungen etc. für erwachsene Personen geben kann, hierüber geben die örtlichen EUTB´s meist gute und kostenfreie Auskunft.
Es kann sich auch lohnen, nach Selbsthilfegruppen Ausschau zu halten. Diese gibt es als Vor-Ort-Veranstaltungen oder auch in Onlineformaten.
Zur inhaltlichen, therapeutischen Hilfe wird nun oft Psychotherapie empfohlen. Diese kann, wenn der Therapeut/ die Therapeutin Erfahrung mit und Einfühlungsvermögen in autistische Menschen hat, auch absolut sinnvoll sein, insbesondere, wenn Traumata aufgearbeitet werden sollen.
Als insbesondere für den Anfang hilfreicher wird jedoch oft eine beratende oder auch therapeutische Begleitung von selbst neurodivergenten Personen empfunden.
Denn es ist zunächst wichtig, sich mit dem neuen „Vorzeichen“, welches das eigene Leben nun bekommen hat, zunächst bekannt zu machen.
Wodurch zeichnet sich „mein“ Autismus aus? Was bedeutet die Diagnose für mein Leben? In welchen Bereichen bräuchte ich Hilfe oder Unterstützung? Wie kann ich meine besonderen Bedürfnisse im Alltag berücksichtigen?
Als unser Termin sich zu seinem Ende neigt, blickt Katrin in die Kamera und sagt: „Ich habe das Gefühl, als wenn mich zum ersten Mal in meinem Leben jemand wirklich versteht!... Dabei kennen wir uns doch kaum!“
Ein tolles Feedback, welches immer wieder warm durch mein Herz rieselt, obwohl ich mich dann immer leise frage: „Ist dieser Funke wirklich so selten? Gibt es für neurodivergente Menschen in unserer Gesellschaft wirklich so selten einen Rückhalt, Bestätigung, Akzeptanz?“
Katrin wirkt erleichtert, hat wieder Kraft und Raum in ihren Gedanken für mögliche lösungsorientierte Ideen.
„Soll ich dir was sagen? Ich glaube, jetzt bin ich schon ein bisschen gespannt darauf, was ich noch alles an und in mir entdecken kann…!“
Los geht´s! Mal schauen, was da noch alles entstehen wird!
Bleibt neugierig!
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