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Janina Jörgens

Autismus und Klinikaufenthalte

Aktualisiert: 23. Sept.


Frau in Klinik Bett


Ach - ich weiß gar nicht, wo und wie ich anfangen soll…

 

Ein Titel mit nur 3 Worten - und dahinter stehen hundertfache Dramen…

 

 

Klar, niemand geht gern ins Krankenhaus… Eigentlich ist so ziemlich jeder Mensch froh, wenn er nach einem solchen Aufenthalt wieder nach Hause entlassen wird. 

Die „üblichen“, also neurotypischen, Beschwerden fangen meist bei „schlechtem Essen“ an, setzen sich womöglich fort über „unbequeme Betten“ oder „überlastetes Krankenhauspersonal“.

 

Wo aber liegen die besonderen Hürden für neurodivergente, autistische Menschen?

 

Oha… ich sagte ja: Wo soll ich anfangen!?

 

Beginnen wir beim Thema Reize und mögliche Reizfilterschwäche.

Sehen:

Lange Flure, viele Türen, spiegelnde Oberflächen, viele unbekannte Menschen…

Hören:

Hallige Räume, piepende Geräte, Gespräche der Menschen in den Nebenzimmern, auf den Fluren, etc., Klappern auf den Gängen…

Riechen:

Gerüche anderer Menschen, Desinfektionsmittel, Großkantinengerüche…

Fühlen:

Kratzige Bettwäsche, die eigenen körperlichen Symptome, wegen derer man möglicherweise im Krankenhaus ist, die eigene Angst, die Ängste der anderen, mögliche Zugänge wie Infusionen, etc. …

Schmecken:

Medikamente, unbekanntes Krankenhausessen…

All diese Beispiele sind bin ins Unendliche erweiterbar…

 

Schauen wir mal in die Richtung der möglichen autistischen Bedürfnisse.

Rückzugsmöglichkeiten? Nein.

Flexibilität, wie zum Beispiel die Alternative, Untersuchungen zu verschieben? Nein.

Safe Food? Eher nein.

Stimming? Eher nein - man möchte ja nicht auffallen…

 

Klinikaufenthalte sind oft eine höchst unglückliche Anhäufung von unvermeidbaren Reizen, Erlebnissen und Gegebenheiten, die für autistische Menschen absolut ungünstig, ja geradezu unerträglich sind.

 

Mehrbettzimmer, Toiletten und Bäder, die mit anderen Personen genutzt werden müssen, wegfallende Routinen wie Schulbesuch, Arbeit, die bekannten Therapien, Hobbys… Stattdessen andere und strikte Tagesabläufe, wegfallende Rituale z.B. vor dem Schlafengehen, usw..

 

All die Dinge, die einem im üblichen Alltag Halt geben können, fallen meist alternativlos weg.

Und zusätzlich kommt weiterer Stress hinzu, wie eben vielfältige unvermeidbare Reize, möglicherweise Schmerzen und eine eigene körperliche Unpässlichkeit, die eigene Angst und die der anderen, Besucher…

 

So…

Und bis hierhin haben wir erst mal „nur“ von Krankenhausaufenthalten gesprochen…

 

Aufenthalte in psychosomatischen, psychiatrischen, Reha- oder Kurkliniken sind nochmal anstrengender und potentiell traumatischer…

 

Was? Warum denn das? Die sollten sich doch auskennen!

 

Ja - sollten sie…

 

Tatsächlich sind aber gerade dort die Tagesabläufe noch strikter, die Verhaltensregeln noch strenger.

Es wird oft mit Verstärkerplänen gearbeitet - klingt gut… Ist es für die Autist/Innen aber leider oft eben nicht!

 

„Wenn du dreimal am Gruppentraining teilgenommen hast, darfst du am Wochenende Besuch von deiner Familie bekommen!“

 

Uff…

Natürlich möchte man seine Familie sehen - also maskiert man bis zum Umfallen (manchmal sogar im wahrsten Sinne des Wortes), um an einem Gruppentraining teilzunehmen.

Und selbst wenn man sich die größte Mühe gibt, schafft man womöglich „nur“ zwei der geforderten Termine… 

Man hat Höchstleistungen erbracht, ist daran zerbrochen und bekommt zur Strafe nun keinen Besuch…???

 

Selbst meine jüngsten Klienten haben bei solchen Aufenthalten unglaublich schnell erkannt, wie sie sich verhalten müssen, um nicht aufzufallen, um in den „Genuss“ von „Vergünstigungen“ zu kommen.

Auch hier sei erneut darauf hingewiesen: „Genuss“ und „Vergünstigungen“ - das klingt nach jeder Menge Spaß, nach „Belohnung“ und wäre für neurodivergente Menschen gerade eben eine Minimaldosis an dringend nötiger Sicherheit…

 

Meist sieht es in der Realität dann so aus, dass die Autist/Innen während solcher Maßnahmen massiv maskieren.

Die Kliniken stellen fest, dass der Patient sich toll an Regeln halten kann, unter „Klinikbedingungen“ prima funktioniert.

Dass dies allerdings nur die höchst anstrengende Maske ist, die gezeigt wird, um mögliche Strafen und Restriktionen zu vermeiden, das wird meist nicht erkannt.

 

Kommt der- bzw. diejenige dann wieder nach Hause, fallen die Masken ab und der gesamte aufgestaute Stress bricht nach außen…

 

Nun wirkt es so, als ob die „tollen Ergebnisse“, die in der Klinik gezeigt wurden, zu Hause nicht funktionieren. Ist nun der Patient schuld, weil er die therapeutischen Inhalte nicht nachhaltig umsetzt? Oder die umgebende Familie, die Eltern, weil sie einfach in der Erziehung versagen?

 

Nein - Klinikaufenthalte sind einfach oft der pure Stress und sorgen bei autistischen Menschen leider häufig nicht für die erhofften Ergebnisse…

 

An dieser Stelle verweise ich gern auf unsere anderen Podcast-Folgen, in denen es um das Thema „Ziele“ geht. Denn die Erwartungen, die Kliniken an die Patienten und in ihre eigenen Maßnahmen setzen, passen oft nicht zusammen, sind unrealistisch oder zielen an den Möglichkeiten, Bedürfnissen und Wünschen der Autist/Innen vorbei.

 

An Flughäfen und in vielen Freizeitparks gibt es die Möglichkeit, auf autistische Bedürfnisse einzugehen. Es gibt spezielle Codes, die z.B. Wartezeiten verkürzen, die Nutzung von Hintereingängen ermöglichen, Hilfsmittel zur Verfügung stellen.

 

Warum gibt es das nicht (flächendeckend und automatisch) in Kliniken???

Gebt gern mal Rückmeldung, egal ob ihr als Patient eine Klinik besucht habt oder in einer Klinik arbeitet, die gern ein paar Tipps bekommen möchte oder auch in einer Klinik, die bereits die Notwendigkeit einer Anpassung an neurodivergente Menschen erkannt und umgesetzt hat.

 

Ich bin neugierig! Ihr auch?

Passt gut auf euch auf!

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