Ein zerrissener Brief als Zeichen der Wertschätzung - ein Fallbeispiel nonverbaler Kommunikation
- Janina Jörgens
- 5. Nov.
- 3 Min. Lesezeit

Ich kannte Fabian, 15 Jahre, als Asperger-Autist diagnostiziert, bereits seit beinahe 2 Jahren. Fabian erhielt Autismus-Therapie, welche in diesem Fall als Hausbesuch angeboten wurde. Wir trafen uns entweder bei Fabian zu Hause oder bei schönem Wetter auch draußen zu Waldspaziergängen oder Besuchen auf dem Bolzplatz.
Wenn wir uns bei Fabian zu Hause trafen, war es für ihn wichtig, dass seine Mutter anwesend war und die Tür öffnete.
Nun ergab es sich jedoch eines Abends, dass seine Mama nicht zur verabredeten Zeit zu Hause sein konnte - sie stand auf dem Heimweg von der Arbeit im Stau… Sie besprach via Handy mit ihren Söhnen, dass einfach Fabians Bruder heute für mich die Tür öffnen könne - sie käme, so schnell es geht dazu!
Als ich jedoch ankam, öffnete Fabians Bruder die Tür mit einem: „Tut mir leid - ich weiß nicht, ob das hier klappt!“ - und ich musste nicht fragen, was er damit meint!
Bereits an der Eingangstür zur Wohnung war Fabian - sonst ein sehr stiller Junge - mehr als deutlich zu hören.
Ich ging zu seiner Zimmertür, kündigte mich leise an, blieb aber vor der Tür stehen und öffnete diese nicht.
Fabian ließ üble Flüche hören und warf von innen Gegenstände gegen die Tür, trat gegen seine Möbel.
Ich blieb vor der Tür, beruhigte Fabians Bruder, dem die Situation peinlich war, schrieb zwischendurch mit Fabians Mama, die immer noch im Stau steckte und der die Situation ebenfalls unangenehm war ruhige Nachrichten.
Zwischenzeitlich wurde die Geräuschkulisse in Fabians Zimmer etwas ruhiger.
Ich erklärte Fabians Bruder ruhig, dass es manchmal Tage und Umstände gäbe, die absolut schlimm seien, insbesondere wenn man sie sich anders ausgemalt habe. Ich wusste, dass Fabian zeitgleich hinter der Tür jedes Wort hörte.
Als ich Fabian ansprach, dass er sich alle Zeit nehmen könne und es völlig ok wäre, wenn wir uns heute möglicherweise nicht sehen würden, nahm das Chaos sofort wieder deutlich zu.
Ich gab Fabian zu verstehen, dass ich, obwohl ich seine Anspannung bemerke, noch 15 Minuten vor seinem Zimmer bleiben würde, da ich noch etwas aufschreiben müsse und es draußen regne.
Aber es änderte sich nichts.
Jede konkrete Ansprache war zuviel.
Ich nutzte die Zeit und schrieb Fabian einen kurzen Brief, in dem ich ihm mitteilte, dass es mir leid tue, dass sein Tag heute so aufwühlend war, ich ihn jedoch verstehen könne. Ich versicherte ihm, dass ich mich nicht angegriffen fühle und seinen Wunsch nach Rückzug absolut akzeptiere - es sogar ganz großartig fände, dass er so für sich sorgt.
Ich bot ihm an, nächste Woche zu unserem Termin wieder herzukommen - außer, er entscheide sich dagegen, dann könne er gern seiner Mama Bescheid sagen. Und ja - auch das wäre für mich in Ordnung.
Den Brief schob ich unter seiner Tür durch, verabschiedete mich leise.
Im Hinausgehen sprach ich kurz mit seinem Bruder und Mama kam uns bereits entgegen.
Ich bat sie, einfach ins Haus zu gehen und dass wir später noch einmal telefonieren können - denn jetzt musste sie sich erst mal für Fabian anbieten.
In der darauffolgenden Woche empfing mich Fabian wie immer. Das Zimmer war wie immer sehr aufgeräumt und für uns beide vorbereitet mit 2 Sitzkissen auf dem Boden.
Auf dem Schreibtisch lag - als einziger Gegenstand - mein Brief aus der Vorwoche.
Und der Brief hatte offensichtlich eine Menge erlebt!
Zusammengeknüllt, zerrissen, geglättet und mit Tesafilm wieder zusammengefügt.
Für mich ein Zeichen absoluter Wertschätzung!
Als ich ihn in der Vorwoche unter der Tür durchschob, wurde der Brief traktiert - bereits am selben Abend aber wieder akribisch gerettet.
Ich warf einen Seitenblick zum Schreibtisch erahnte die Botschaft hinter dieser Geste, zwinkerte Fabian zu und wir begannen - ohne ein weiteres Wort über den Brief oder die Situation in der Vorwoche zu verlieren - mit unseren üblichen, routinierten Begrüßungsabfolgen.
Erst einige Wochen später brachte Fabian den Vorfall zur Sprache und wir überlegten, was genau an der Situation für ihn so schwierig war und wie wir das besser machen könnten, sollte Mama nochmal im Stau stehen.
Tatsächlich konnte Fabian großartige Ideen entwickeln und ein paar Monate später schickte er Mama zum einkaufen und öffnete mir selbst die Tür - ok, ich musste 5 Minuten warten - und das ist lang vor einer verschlossenen Tür! - er öffnete dann die Tür und rannte sofort in sein Zimmer - aber immerhin!
Weitere 3 Wochen später öffnete er mir die Tür, als wenn es das Selbstverständlichste der Welt wäre - und ab da öffnete er immer die Tür für mich - auch, wenn Mama zu Hause war.
Das Ganze ist nun schon 5 Jahre her - und noch immer schießen mir Tränen der Rührung in die Augen, wenn ich an dieses Erlebnis denke.
Das wird längst nicht das letzte Fallbeispiel sein, welches ich mit euch in diesem Format teilen werde.
Bleibt neugierig








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