Anekdoten-basiertes Arbeiten? Was soll denn das sein???
Nun, ich arbeite seit über 25 Jahren als selbst neurodivergenter Mensch mit Autisten und ihren Systemen.
Ich habe also durchaus schon eine ganze Menge erlebt. Lustige Geschichten, aber auch hochdramatische, erschütternde, erhellende und herzerwärmende.
Viele dieser Erlebnisse könnt ihr nach und nach hier im Blog und im Podcast verfolgen.
Ich nutze diese Anekdoten aus meinem eigenen (Er)Leben und meiner Arbeit gern auch mit und für meine aktuellen Klienten.
Warum? Warum erkläre ich nicht „einfach“ ganz normal, was Autismus ist und was man bei der einen oder anderen Herausforderung machen kann?
Weil Autismus ein Spektrum ist.
Autismus ist bunt. Und dadurch absolut schwierig zu erfassen.
Es gibt mittlerweile einige Arbeitsmaterialien zu dem Thema - aber: nie passt es so richtig… weil einfach jeder Autist ein anderer Mensch ist und seine eigenen, ganz individuellen Sichtweisen, Schwierigkeiten, Wünsche hat…
Ich müsste also jedes vorhandene Arbeitsmaterial zunächst einmal selbst im Hinblick auf den jeweiligen Klienten, den ich dafür schon recht gut kennen muss, durcharbeiten und vorbereiten.
Denn der Eine möchte nicht, dass man als Autist von ihm spricht. Allein die Nennung des Begriffes würde ihn also von einer Mitarbeit abhalten, denn es betrifft ihn ja nicht…
Der Nächste hatte am Vormittag doch schon Schule!!! Und da lege ich am Nachmittag schon wieder ein ARBEITS-Blatt hin??? Nein - auf keinen Fall. Mitarbeit eingestellt…
Und eine weitere Person stört sich daran, dass im Text nicht gegendert wurde - oder daran, dass gegendert wurde - oder an nicht gut gezeichnetem Bildmaterial - oder…
Wenn ich meine Klienten aber begleite, bin ich mir bewusst, dass ich ihnen und ihren Familien mit meiner Arbeit nahe komme. Sehr nah! Und dass ich sie womöglich lange begleite.
Also möchte ich nach meinem eigenen Berufs- und Lebensverständnis möglichst authentisch sein.
Es hat eine andere Wirkung, wenn ich anhand von bereits erlebten Anekdoten berichte, als wenn ich vorgefertigtes Material heranziehe oder aus Büchern zitiere.
Ich zeige mich als Mensch.
Nicht alle Anekdoten berichten von gelungenen Erlebnissen. Viele berichten auch vom Scheitern, von Rückschritten… Aber immer mit der Erwähnung, dass jeder Krise eine Chance innewohnt und wie man die nutzen kann - im besten Falle sogar in der erwähnten Situation sogar genutzt hat.
Ich lasse erkennen: Du bist nicht allein.
Die Situation habe ich so oder ähnlich schon mal erlebt. Du bist nicht die einzige Mutter, die abends verweint auf dem Badewannenrand sitzt und nicht weiß, wie sie den nächsten Tag überstehen soll. Du bist nicht das erste Kind, welches im Kindergarten das Sprechen eingestellt hat. Du bist nicht der einzige Mensch auf der Welt, den bestimmte Geräusche aggressiv machen können. Du bist mit ziemlicher Sicherheit nicht der einzige Autist auf Deiner Schule, Deiner Universität, Deiner Arbeitsstelle.
Ich biete bereits erprobte Lösungsideen an.
Es macht einen Unterschied, ob ich darauf hinweise, dass im Buch XY auf Seite 10 genau steht, wie man bei einem Meltdown am besten reagieren kann oder ob ich von verschiedenen Situationen berichte, in denen verschiedene Menschen einen Meltdown durchleben mussten und welche hilfreichen Wege sie womöglich für sich gefunden haben.
Meine Klienten erhalten so die Möglichkeit, ihr Vertrauen zu einer authentischen Person und zu sich selbst aufzubauen.
Sie können sich verschiedene Ideen „abgucken“ und möglicherweise als für sich selbst passend ausprobieren.
In der Gesprächssituation können sie entweder einfach als Zuhörer lauschen oder auch Fragen stellen, Kritik äußern, ja sich sogar lustig machen - denn: Was hilft, hat recht. Und in diesem Moment schadet es niemand Außenstehendem. Im Gegenteil, wir haben dann sogar einen weiteren Anlass zum Austausch: Welche Maßnahme passt für wen? Warum passen manche Hilfen nur zu manchen Personen und zu anderen nicht? Nicht jeder Mensch weiß alles, Menschen machen Fehler, das ist nicht schlimm.
Und all die geschilderten Anekdoten passieren meinen Klienten nicht selbst. Sie müssen nicht selbst die Scham erlebt haben, die ein Meltdown im Supermarkt mit sich bringt. Sie müssen nicht ausgelacht werden, weil ein Outing zum falschen Zeitpunkt stattgefunden hat. Sie müssen sich nicht allein über Lehrer aufregen, die ihre Bedürfnisse nicht erkennen können.
Und sie können all das erst mal aus zweiter Reihe, quasi als Beobachter erleben, mitgehen, durchdenken, beleuchten.
Das entspannt.
Und häufig erlebe ich, wie meine Klienten die Inhalte der Anekdoten mitnehmen, bis zum nächsten Termin im eigenen Kopf mit sich tragen und in der Folgewoche (manchmal aber auch Monate später!) dies nochmal zum Thema machen und ihre eigenen Erkenntnisse daraus gezogen haben.
Ich liebe es, mit Anekdoten zu arbeiten.
Dabei berichte ich oft von (teils längst) „abgeschlossenen“ Fällen. Wenn ich aktuelle Anekdoten berichte, frage ich vorher die betreffenden Personen um Genehmigung.
Und ich stelle niemals jemanden bloß. Ich verändere Erlebnisse anderer Personen so, dass sie nicht mehr zurückverfolgbar sind. Ich sage also nicht: „Der Tim, der immer vor dir hier ist, der hat mal erlebt, dass…“ oder „An Deiner Schule ist ein anderes Mädchen, auch Autistin, mit der haben wir mit deiner Lehrerin auch schon mal…“.
Und wenn ihr nun neugierig auf weitere Anekdoten aus meiner Sammlung seid: bleibt einfach hier dabei und bleibt neugierig aufeinander!
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