Immer wieder werden neurodivergente Menschen mit Ratschlägen bedacht.
Ein Klassiker hier ist:
„Du musst auch mal aus deiner Komfortzone rauskommen! Erst dahinter kann echtes Wachstum stattfinden!“
Ah ja! OK… Aber…
Also ich habe mich dann eigentlich immer gefragt, wo denn diese vielumworbene Komfortzone überhaupt sein soll? Ich hätte sie gern gefunden, um mich mal da umzuschauen, wie es da wohl so ist…, oder mich da einfach mal auszuruhen…
„Du musst doch auch mal draußen spielen!“
„Du musst doch Freunde finden!“
„Du musst doch auch mal auf Partys gehen!“
„Du kannst doch nicht immer noch in der gleichen Wohnung wohnen…!“
„Du kannst doch nicht immer nur das Gleiche essen…“
„Du solltest mehr Sport treiben!“
„Du solltest dir ein Hobby suchen!“
„Du solltest nicht soviel am Handy spielen!“
Das und vieles mehr bekommen Menschen aus dem autistischen Spektrum gefühlt jeden Tag zu hören…
Und? Hilft das? Nein!
Die Komfortzone, die in den lebenspraktischen Ratgebern so oft beschrieben wird, ist ein für neurodivergente Menschen kaum zu erreichender Ort.
Wenn ein Mensch mit einem hochsensiblen Nervensystem nach dem Kindergarten, der Schule oder dem Büro nach Hause kommt, sich aufs Bett oder das Sofa fallen und womöglich vom Fernsehen oder dem Handy berieseln lässt, dann hat das nichts mit „Komfortzone“ oder „chillen“ zu tun. Das ist eine dringend notwendige und nicht verhandelbare Wiederherstellungsmaßnahme.
Das Nervensystem lief den ganzen Tag auf Hochtouren, es mussten permanente Anpassungsleistungen geliefert werden, die Person ist bereits den ganzen Tag teilweise weit über die Grenzen ihrer eigentlichen Leistungsfähigkeit hinausgegangen… - meist ohne, dass es jemand Außenstehendes auch nur erahnt hätte…
„Wieso bist du eigentlich immer müde?“
„Das ist doch langweilig, immer nur zu Hause, allein…“
„Jetzt mach doch wenigstens die Mittagspause mit uns zusammen…!“
Doch zurück zum Anfang: „Du musst aus deiner Komfortzone rauskommen, erst dahinter ist echtes Wachstum möglich.“
Neurodivergente Menschen leben weit außerhalb ihrer „Komfortzone“, ahnen meist noch nicht einmal, wo die überhaupt zu finden wäre…
Und so lernen sie jeden Tag. Sie lernen, sich anzupassen, sich zu strecken, möglichst unauffällig über ihre Grenzen zu gehen, um mit den anderen mitzuschwimmen…
Oft geht das eine (durchaus auch lange) Weile gut, aber meistens rächt sich dieses permanente Leben auf der eigenen Überholspur – die von außen vielleicht oft gerade mal nach „Mindestgeschwindigkeit“ aussieht, sich für den Betroffenen aber anfühlt wie 24 Stunden im Formel 1 Cockpit auf der Rennbahn - ohne Gebrauchsanweisung, ohne Fahrlehrer, nachts im Regen, mit Kopfschmerzen und Sturm…..
Leben am Limit ist keine gute Grundvoraussetzung zum Leben und zum Lernen.
Es ist für neurodivergente Menschen also nicht wichtig „mal“ aus der Komfortzone herauszukommen, sondern im Gegenteil, diese erst einmal kennenzulernen.
Denn „in der Ruhe liegt die Kraft“, erst wer gelernt hat, seine Batterien auch zielsicher wieder aufzuladen, hat im Rennen am nächsten Tag überhaupt eine Chance, vielleicht auch mal auf den vorderen Plätzen zu landen!
Lernt euch und eure Grenzen kennen! Geht mal auf die Suche, wo eure Komfortzone sein könnte. Und dann genießt sie, so oft ihr könnt!
Anstrengend wird es bald meist von ganz allein wieder… ;-)
In diesem Sinne: Bleibt neugierig! Auf euch selbst und aufeinander!
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