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Janina Jörgens

Meltdown im Supermarkt


Weinendes Kind im Einkaufswagen


Dies ist wieder eine wahre Geschichte, die sich fernab von meinem beruflichen Erleben zugetragen hat, sondern tatsächlich im Privaten, als ich selber im Supermarkt einkaufen war. 

 

Auch ich finde Supermarkt hochgradig anstrengend - einkaufen ist überhaupt nicht meine Lieblingsdisziplin. Das ist eines von den Dingen, die nun mal getan werden müssen, aber tatsächlich achte ich darauf, dass ich z.B. nur einkaufen gehe, wenn es mir gut geht, ich sonst nicht allzu viele „Päckchen“ mit mir herumzutragen habe.

Wenn ich gestresst bin, nicht ganz fit oder viele andere Termine anstehen, verschiebe ich einen Einkauf auch schon mal um ein paar Tage… Ich kann dann auch sehr kreativ werden, was das Kochen zu Hause angeht. In der Resteverwertung bin ich ziemlich gut. ;-)

 

Ich war also einkaufen in einem ganz normalen Supermarkt. Für die meisten Menschen kein Problem. Man hat seinen Einkaufszettel, den arbeitet man ab - fertig. 

 

Für Autisten kann die Welt ganz schön anders aussehen. Da riecht es komisch. Da hört es sich komisch an. Es gibt auf einmal irgendwelche Durchsagen und man weiß gar nicht,  wo diese Stimme herkommt. Der Einkaufswagen klappert, die Bäckertüten rascheln, Stimmengewirr, das viel zu laute Piepen an den Kassen… Reizüberflutung pur!

 

Als ich also im Geschäft bin, sehe ich hinten ein Mädchen stehen, etwa sieben oder acht Jahre alt, wie sie sich am Einkaufswagen ihrer Mutter festklammert und sehr unruhig wirkt. Ich sehe, wie flach ihr Atem geht, wie ihre Augen beinah panisch hin- und herfliegen. 

 

Die Kleine war tatsächlich Autistin und rutschte gerade eben in einen Meltdown - und der ganze Supermarkt wurde Zeuge. 

 

Der Mama ging es fast so schlimm wie ihrer Tochter. Sie wurde wechselnd dunkelrot und dann wieder ganz blass. Ihr brach der Schweiß aus.

 

Dann begann die Kleine sich auf den Boden zu schmeißen, laut zu schreien, sich die Haare zu ziehen, um sich zu treten. 

Es war vorbei. Es gab keine Rettung mehr, der Meltdown war in vollem Gange.

 

Mama hockte sich zu ihrem Kind, stand wieder auf, hilflos den nun schnell auf sie einströmenden Ratschlägen von Außen ausgesetzt:

„Wie ist denn dieses Kind erzogen? Da haben Sie aber einiges falsch gemacht!“, „Jetzt stell dich nicht so an, Kind, damals hätte es ein paar hinter die Löffel gegeben!“. „Das haben Sie jetzt von ihrer anti-autoritären Erziehung!“, und und und.

 

Die Tränen standen ihr schon in den Augen. 

Ich ging in Richtung der beiden, fing den Blick der Mama auf und fragte: „Spektrum?“. Sie schluckte, nickte, sagte kein Wort.

 

Ich stellte beide Einkaufswagen über Eck und setzte mich zu der Kleinen, hinter ihren Rücken. Augenblicklich wurde sie ein bisschen ruhiger. Sie kannte mich nicht, sie wusste nicht „was passiert da hinter mir“, warf nur einen Blick in meine Richtung und es war okay. 

Wir saßen beinah auf Augenhöhe in einer unmöglichen Situation, die total peinlich war - der Kleinen auch, das konnte man sehen.

 

Mama schaute mich nur an. Ich sagte: „Wenn Sie mögen, können Sie sich gerne zu uns setzen oder kurz noch Ihre Einkäufe erledigen. Ich würde mich anbieten und bleib so lange hier.“

 

Jetzt waren wir schon mal zwei Erwachsene und zwei Einkaufswagen mit einem kleinen, völlig verzweifelten Menschenbündel. Wir zusammen gegen den Rest der Welt. 

Langsam ebbten auch die recht unqualifizierten Kommentare ab. Manche der Kunden wirkten tatsächlich wie von sich selbst peinlich berührt. Sie begannen zu ahnen, dass da gerade etwas anderes passierte als ein kindlicher „Wutanfall“.

 

Die Mama kaufte noch schnell ihre Brötchen, die sie gerade vom Back Automaten holen wollte, bedankte sich, packte ihre Maus, nachdem es ihr ein bisschen besser ging ein und die zwei verschwanden sofort in Richtung Kasse. Ich ging hinterher und beendete auch meinen Einkauf, damit die Kleine das Gefühl hat: „Wir gehen im Rudel! Ich bin ein bisschen beschützt.“

 

 Draußen auf dem Parkplatz unterhielten wir uns noch, sobald die Kleine im Auto saß und ihr Spielzeug wieder in die Hand bekam. Ein wunderbares Wackel-Spielzeug, mit Licht und schwebenden Metallflocken.

Noch konnte sie nicht wieder sprechen, das war zu viel, aber sie lächelte, und es ging ihr sichtlich besser. 

 

Die Mama bedankte sich von Herzen, stieg sichtlich erleichtert ins Auto und die beiden fuhren davon. 

 

Wieder einmal hätte ich mir gewünscht, dass es irgendeine Möglichkeit gibt, den Menschen den Unterschied sofort klarzumachen zwischen einem Wutanfall und einem Meltdown, zwischen schlecht erzogen und autistisch. 

Natürlich gibt’s auch beides und die Unterscheidung ist dann denkbar schwierig.

 

Vielleicht habt ihr eine ähnliche Situation auch schon einmal erlebt und euch auch dementsprechend hilflos und missverstanden gefühlt.

Vielleicht hättet ihr euch in dieser Situation auch einfach jemanden gewünscht, der einfach nur da ist - denn mehr habe ich nicht gemacht. 

Ich habe keine Super-Skills angewandt. Ich habe keine therapeutischen Erklärungen abgegeben. Ich hatte keine „Supernanny-Tipps“.

 

Ich war einfach nur da und das ist manchmal mehr als alles andere. 

 

Einfach nur „da sein“.

 

In diesem Sinne - bleibt neugierig!

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