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Janina Jörgens

Nachteilsausgleich

Aktualisiert: 25. Sept.


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Heute möchte ich ein paar Gedanken zum Thema Nachteilsausgleich mit euch teilen. 

Ein Buch mit sieben Siegeln für viele und doch so ein großer Hoffnungsanker.

 

Nachteilsausgleich, was bedeutet das? Eigentlich ist es „nur“ der Ausgleich für einen Nachteil, den man durch eine Beeinträchtigung wie z.B. den Autismus haben kann. Zum Beispiel beim Lernen in der Schule.

 

Es gibt durchaus auch Nachteilsausgleiche fürs Studium und den Beruf, dort allerdings sind sie deutlich schwerer zu erlangen, gerade was die Finanzierung angeht. 

 

In der Schule ist der Nachteilsausgleich durchaus bekannt. Der Nachteilsausgleich ist ein Grundrecht, ein Grundrecht auf Chancengleichheit.

 

Das ist in unseren Paragraphen festgehalten. Der Nachteilsausgleich gehört zu den Grundrechten.

 

Die Texte zur gesetzlichen Grundlage sowie einen Dokumentationsbogen werde ich hier in den Beschreibungen verlinken.

 

Der Nachteilsausgleich soll ausgleichen, was an Nachteilen entsteht. Nicht mehr und auch nicht weniger.

 

Die Symptome, durch die sich der Autismus bei der jeweiligen Person zeigt, sind sehr vielfältig. So müssen passende Nachteilsausgleiche stets individuell erarbeitet werden - und das kann ganz schön komplex sein.

 

Für körperlich beeinträchtigte Menschen mag das oftmals leichter fallen.

Wenn jemand im Rollstuhl sitzt, dann braucht er einen Fahrstuhl oder eine Rampe, um über Treppen hinweg zu kommen. Solche Barrieren sind relativ schnell auszumachen, oft sogar bereits in einer Vorlage festgehalten und dementsprechend schnell zu bearbeiten.

 

Autismus ist da vielschichtiger und individueller in den zugrunde liegenden Problematiken.

Hier kann es kaum generalisierte „Handlungsanweisungen“ geben…

 

„Kennst du einen Autisten, dann kennst du einen Autisten.“

 

Jeder benötigt andere Hilfestellungen, andere Formen der Unterstützung.

 

 

Der Nachteilsausgleich alleine macht noch keine guten Noten. 

 

Wer schlecht in Englisch ist, der wird auch mit einem Nachteilsausgleich nicht unbedingt eine 2 auf dem Zeugnis erwarten dürfen. Englisch zählt vielleicht nicht zu seinen absoluten Stärken… Dann ist das so. 

 

Die Kinder, die einen Nachteilsausgleich bekommen, werden zielgleich beschult.

 

Das heißt, hier wird nicht „abgespeckt“. Es ist das ganz normale Programm, was auch für alle anderen im Curriculum, also im Lehrplan, festgehalten ist. 

 

Einen Nachteilsausgleich bekommt man, wenn man die Regelschule besucht und auch keinen Förderschwerpunkt hat.

 

Wenn ein AOSF-Verfahren durchgeführt und ein Förderschwerpunkt festgestellt wurde, dann richten sich die Lerninhalte nach der entsprechenden Ausbildungsordnung. Hier werden dann ggf. auch inhaltliche Anpassungen vorgenommen - dann findet keine zielgleiche Beschulung statt und ein Nachteilsausgleich kommt nicht zur Anwendung.

 

Um einen Nachteilsausgleich in Anspruch nehmen zu können, braucht es eine gesicherte Diagnose. 

 

Und wer beantragt das Ganze nun? 

Meistens die Eltern. Es können aber durchaus auch die Lehrer/Innen sein, die den Antrag stellen.

 

Dieser muss schriftlich bei der Schulleitung erfolgen. Günstigstenfalls können auch Unterlagen beigelegt werden, z.B. Berichte vom Kinderpsychologen, Therapeuten, anderen Institutionen wie Kindergarten oder vorhergehende Schulen, etc.

 

Wenn der Nachteilsausgleich zugesprochen wird, dann ist er bindend. Um die Erfüllung muss sich gekümmert werden. 

Festzulegen: „Ja, das Kind darf einen ruhigen Extra-Raum aufsuchen.“ und im Nachhinein zu sagen: „Oh, wir haben gar keinen extra Raum…“, das funktioniert nicht. Dann muss einer gefunden werden. 

 

Sollte der Nachteilsausgleich aberkannt werden, dann würde ich immer empfehlen, sich diese Aberkennung auch schriftlich geben zu lassen. Denn so ist immerhin dokumentiert, dass der Bedarf schon mal angesprochen und beantragt wurde.

Dies könnte nämlich für später nochmal interessant werden. 

 

Nun sind wir schon beim wichtigen Thema, der Dokumentation.

 

Ein Nachteilsausgleich, wenn er gewährt wird, muss zwingend in der Schülerakte schriftlich dokumentiert werden.

 

Das ist wichtig!

Denn wenn es dann in ein paar Jahren zu Prüfungen kommt und man vielleicht erst kurz vor den Abschlussprüfungen, wie der Zauberer das weiße Kaninchen, einen Nachteilsausgleich aus dem Hut zaubern möchte, dann funktioniert das nicht mehr. 

 

Der muss mindestens ein halbes Jahr vorher, bestenfalls vor Eintritt in die Oberstufe, in der Schülerakte dokumentiert worden sein, um dann auch bei den Prüfungen wieder herangezogen werden zu können. 

 

Für einen Nachteilsausgleich in den Abschlussprüfungen an sich, muss man tatsächlich sogar extra an die Bezirksregierung herantreten.

 

Der  Nachteilsausgleich darf allerdings nicht auf dem Zeugnis stehen. Solltet ihr Hinweise auf einen Nachteilsausgleich auf dem Zeugnis eures Kindes entdecken, könnt und dürft ihr ein neues Zeugnis anfordern.

 

Im Normalfall wird - oder sollte - der Nachteilsausgleich im Rahmen einer Klassenkonferenz jedes Jahr neu überprüft und ggf. angepasst.

 

Königsdisziplin wäre, wenn man ihn irgendwann auch gar nicht mehr braucht. 

Die beste Hilfe ist die, die sich selbst im Laufe der Zeit überflüssig macht. 

 

Der Nachteilsausgleich gilt für das komplette Schulleben, also nicht nur für das Lernen an sich im Klassenzimmer oder für die Prüfungen, sondern auch für die Pausen, auch für die Klassenfahrten. Gerade bei unseren autistischen Kindern ist das sehr wichtig, denn gerade sie scheitern ach so oft am sogenannten „versteckten Curriculum“. 

 

Sie scheitern an all den meist unerklärten Fragen wie: Wo ist mein Klassenraum? Wo sind die Toiletten? Wann darf ich auf die Toilette gehen? Wann fange ich mit dem Arbeiten an? Was genau macht man eigentlich in der Pause?, usw. 

 

Für neurotypische Menschen alles ziemlich selbstverständliche Dinge, für Kinder mit Autismus eben nicht unbedingt. Hier gilt es also ganz genau zu schauen, was braucht das Kind? Was müssen wir an Hilfen geben? Wo, wann, in welchen Bereichen gibt es für dieses Kind die größten Hürden?

 

Ein Nachteilsausgleich kann z.B. hinsichtlich zeitlicher Strukturen helfen.

 

Zeitzugaben sind üblich und werden oft als erstes in Erwägung gezogen.

„Kind XY erhält eine Zeitzugabe von 15 Minuten bei Klassenarbeiten.“

 

Das kann helfen, wenn derjenige zum Beispiel Schwierigkeiten mit der Grafomotorik hat und nur viel langsamer schreiben kann. Das muss aber nicht helfen.

 

Denn wenn derjenige nur sehr strukturiert von oben nach unten arbeiten kann, die Aufgaben also nach ihrer Nummerierung von 1-5 abarbeiten muss, womöglich aber an der zweiten Aufgabe hängen bleibt, dann kann er den Rest nicht mehr erledigen. Dann hilft eine Zeitzugabe nichts. Dann sitzt er nur weitere 15 Minuten an seinem Blatt und kommt nicht weiter. Hier bräuchte es eine andere Unterstützung.

 

Zeitliche Unterstützung könnte auch bedeuten, den Kindern z.B. eine extra Zeit einzuräumen, um sich vorzubereiten auf den Unterrichtsbeginn, auf eine Klassenarbeit, auf einen Raumwechsel. 

Vielleicht können auch Bedarfspausen Inhalt eines Nachteilsausgleiches sein oder eine Verkürzung von sehr langen Schultagen.

 

Nachteilsausgleiche können auch technisch sein. Z.B. könnte dem Kind ein Laptop zur Verfügung gestellt werden, damit es nicht mehr mit der Hand schreiben muss, sondern eben über die Tastatur seine Texte eingeben kann. Oder die Möglichkeit, das Tafelbild abzufotografieren - und ggf. später im eigenen Tempo ins Heft zu übertragen.

 

Auch räumliche Gegebenheiten können im Nachteilsausgleich festgehalten werden. Z.B. die Gestaltung einer reizarmen Umgebung, Anspruch auf ein Einzelzimmer während der Klassenfahrt, eine passende Arbeitsplatzorganisation, wie z.b. mehr Platz nach rechts und links oder ein aufklappbares Lernbüro.

Der Sitzplatz könnte angepasst werden. Z.B. könnte ein Sitzplatz direkt neben dem Regal angeboten werden, in dem die Schulmaterialien stehen.

Vielleicht muss das Kind eher in der ersten Reihe sitzen, damit es nicht die ganzen visuellen Ablenkungen der fünf Reihen vor ihm zusätzlich verarbeiten muss. Vielleicht ist aber die erste Reihe auch ganz fürchterlich, weil es dann die Kinder hinter sich zwar alle hört, aber eine visuelle Kontrolle nicht möglich ist… vielleicht wäre hier ein Platz an der Seite günstiger…

Vielleicht kann das Kind besser in einem ruhigen Nebenraum lernen oder die Klassenarbeiten auf dem Gang vor dem Klassenzimmer schreiben?

 


Ein Nachteilsausgleich kann auch personell sein. Ein Integrationshelfer, eine Assistenz, ein Patenschüler…

 

Auch modifizierte Aufgaben können dem Schüler oder der Schülerin helfen.

So kann z.B. darauf zu achten sein, dass auf Metaphern oder Redewendungen in Aufgabenstellungen verzichtet wird. 

Oder darauf, dass keine „verschachtelten“ Aufgaben, die mehrere Arbeitsschritte beinhalten, gestellt werden. 

Vielleicht kann es helfen, wenn auf Nummerierungen der Aufgaben verzichtet wird, oder darauf, das Aufgabenblatt als Ganzes zu präsentieren, was womöglich zu einer Überforderung führt. Vielleicht können die Aufgaben einzeln und nacheinander vorgelegt werden. 

 

Hinsichtlich der visuellen Überforderung angesichts überfüllter Aufgabenblätter oder auch bunter Schulbuchinhalte hier ein wichtiger Tipp:

Abdecken!

Alles, was aktuell nicht wichtig ist: abdecken!

So kann die Konzentration effektiv und einfach gesteuert werden.

Für eine solche Hilfe brauchte es wiederum ggf. eine personelle Unterstützung.

 

Auch eine Befreiung von den Hausaufgaben kann Inhalt des Nachteilsausgleiches sein.

Der Schulalltag war anstrengend genug und das eigene Zuhause ist der Rückzugsort. Hausaufgaben klauen oft wichtige Regenerationszeit. Hier sollte stets individuell überlegt werden, was und wie viel an Wiederholung für diesen Schüler/ diese Schülerin notwendig ist.

Vielleicht können Alternativen erarbeitet werden. Z.B. ein Bearbeiten der Hausaufgaben in den Pausen (wenn gewünscht) oder die Möglichkeit, die Hausaufgaben zu diktieren. So könnte das Kind die Inhalte wiederholen, muss sie aber nicht zusätzlich selbst verschriftlichen… Denn gerade das Schreiben ist oft sehr anstrengend und zeit- und nervenraubend für neurodivergente Kinder.

 

Abseits vom „normalen“ Schulalltag können auch Hilfestellungen notwendig sein.

Es könnte sein, dass das Kind von Klassenfahrten befreit wird oder dass es ganz spezielle Maßnahmen für die Klassenfahrten geben muss, dass ganz bestimmte Absprachen getroffen werden müssen, damit eine Klassenfahrt überhaupt angetreten werden kann und dann hoffentlich auch noch ein bisschen Spaß macht. Denn es wäre großartig, das Sozialgefüge „Klasse“ auch mal in einem halb privaten Umfeld kennenlernen zu können. Denn gerade in einem solchen Setting könnte der Schüler/ die Schülerin die eigenen sozialen Fähigkeiten weiter ausbauen. Gerade für das „soziale Lernen“ sind in der Schule oft keine Ressourcen mehr frei…

 

Auch die Schul-Pausen müssen hinsichtlich möglicher notwendiger Anpassungen betrachtet werden.

Pausen sind für unsere autistischen Kinder oft unfassbar anstrengend. Viele berichten, dass das Lernen im Klassenzimmer eigentlich ganz prima ist, da dort alles recht strukturiert ist… aber in den Pausen… heilloses Durcheinander, Kreischen, Laufen, unvorhergesehene Reize… Nach so einer „Pause“ brauchen manche erst mal eine Pause.

 

Vielleicht kann man den Kindern dann eine für sie wirklich erholsame Pause anbieten. Vielleicht darf man drinnen bleiben. Vielleicht kann man in der Bibliothek was recherchieren. Vielleicht dort schon einen Teil der Hausaufgaben erledigen.

Was braucht dieses Kind in der Pause? Bewegung? Ruhe? Braucht es Unterstützung oder Begleitung beim essen und trinken oder dem Toilettengang?

 

Es wird deutlich, wie individuell ein Nachteilsausgleich für autistische Schülerinnen und Schüler gestaltet werden müsste.

Und ich hoffe, es entsteht ein Bewusstsein in den Schulen, warum solche Hilfen notwendig sind.

 

Hört gern auch in unsere anderen Podcast-Folgen hinein, in denen es um die Themen „Schule“, „Wahrnehmung“ und „Barrieren“ geht und teilt diese Inhalte gern weitläufig.

 

Insgesamt bleibt festzuhalten, der Nachteilsausgleich ist ein Grundrecht und nicht etwa eine „Nettigkeit“ der Schule oder der jeweiligen Lehrer.

 

Fordert dieses Recht ein!

 

Bleibt neugierig!

 

 

Gesetzliche Grundlage (u.a.) Artikel 3 Abs. 3GG; Paragraph 126 SGB IX; Paragraph 48 SchwbG, Paragraph 1,2 ABS.9 SchwbG NRW.  



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