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Janina Jörgens

Paul und die Kekse - Warum Textaufgaben oft so "schwierig" sind...


Schokokekse


„Paul hat 10 Kekse. Tim fragt ihn nach 2 Keksen. Wieviele Kekse hat Paul?“

„10“


Ganz ehrlich? Hätte ich auch gesagt…


Denn die vermeintlich einfache Textaufgabe wirft streng genommen mehr Fragen auf, als nach Auffassung des Lehrers hier zu beantworten sind.


Hinter der Textaufgabe steht die gewünschte Rechnung: 

10-2= ?, na, natürlich 8… Ist ja keine schwere Aufgabe…


Warum hat Jonas (Name verändert), 11 Jahre, Gymnasium, Note 2 in Mathe dann mit 10 geantwortet???


Nun, Jonas hatte Fragen…


Wenn autistische Kinder Textaufgaben lesen, erscheinen ihnen diese oft viel zu unkonkret. Sie hinterfragen verschiedene Inhalte, denken weiter, suchen den „Haken“ an der Geschichte - so einfach kann die Aufgabe ja auch wirklich nicht sein, oder???


Und dann geht es los im Kopf:

„Paul hat 10 Kekse. Tim fragt ihn nach 2 Keksen. Wieviele Kekse hat Paul?“


  • Wer ist Paul?

  • Wer ist Tim?

  • Kennen sich Paul und Tim?

  • Wie gut kennen sich Paul und Tim?

    • Hat Tim womöglich sein Pausenbrot vergessen und daher schlimmen Hunger? Dann gibt ihm Paul bestimmt ein paar Kekse ab.

    • Weiß Paul, dass Tims Familie gerade Geldprobleme hat und sich daher keine Kekse leisten kann? Auch dann gibt Paul bestimmt ein paar Kekse ab.

    • Vielleicht tauschen beide gern ihre Pausensnacks und machen das jeden Tag?

  • Mag Paul Tim?

    • Ja - dann gibt er ihm bestimmt ein paar Kekse.

    • Nein - dann bekommt Tim bestimmt keinen Keks von Paul.

  • Um was für Kekse handelt es sich? 

    • Sind es sehr teure Kekse? 

    • Sind es Pauls Lieblingskekse - dann gibt er sicher keinen ab.

    • Mag Paul die Kekse vielleicht nicht? Dann verschenkt er vielleicht alle gern an Tim.

    • Sind es Nuss-Kekse und Tim hat evtl. eine Nussallergie? Dann darf er davon auf keinen Fall welche nehmen!!!

  • Was genau fragt Tim?

    • Warum sehen diese 2 Kekse anders aus?

    • Warum haben die Kekse so gekrümelt?

    • Wie schmecken dir die Kekse?

    • Wieviele Kekse hast du?

    • Wo hast du die Kekse gekauft?

    • Hat deine Mutter die Kekse gebacken?

    • Sind da Nüsse drin?

  • Warum fragt Tim Paul nach den Keksen? 

    • Möchte er das Rezept haben? Das kann Pauls Mutter ihm bestimmt geben. 

    • Möchte er wissen, ob Nüsse drin sind? Wegen seiner Nussallergie?


Äääähhh…. Wie war nochmal die Aufgabe????


Na? Wer hat das so oder ähnlich schon mal erlebt?


Nun kommen die Menschen an den Start, die dem Schüler helfen wollen, z.B. die I-Hilfe von Jonas oder seine Mutter und bitten in der Schule nach einer Hilfe, schließlich hat Jonas ja einen Nachteilsausgleich.

Lehrer und Schule sagen: Ja, einen Nachteilsausgleich gibt es aber nur bei zielgleicher Förderung… Wenn wir die Aufgabe verändern würde Jonas ja nicht mehr zielgleich unterrichtet…


Moment… Was soll denn der Zweck der Aufgabe sein?

Ganz an der Basis wohl das Errechnen der Aufgabe 10-2= ?, richtig?

OK, das Ganze soll dann im realen Leben zu Anwendung kommen, daher verpackt als Textaufgabe - auch in Ordnung.


Könnte man vielleicht schreiben: Paul hat 10 Kekse. Er schenkt Tim 2 Kekse. Wieviele Kekse hat Paul danach übrig?


Ich würde hochdotierte Wetten eingehen, dass diese Aufgabe (obwohl es im Grunde genommen immer noch dieselbe Aufgabe ist), für Jonas leichter zu lösen wäre…


Es kann natürlich sein, dass Jonas noch Schwierigkeiten im sozial/emotionalen Erleben hat, keine Freunde hat, regelmäßig in Streitereien auf dem Pausenhof gerät, sehr Ich-bezogen agiert… Dann würden die vermeintlichen „Schwierigkeiten“ beim bearbeiten der Textaufgabe wunderbare Ansätze für eine gemeinsame Arbeit mit Jonas ergeben. Jonas würde allein beim lesen der Aufgabe evtl. in Rage geraten, weil er sich an einen Moment letzte Woche erinnert, als ihm ein Junge sein Pausenbrot stibitzen wollte… Zwar ohne zu fragen, aber das Ganze endete nachher vor dem Schuldirektor und Jonas musste 2 Stunden Müll vom Schulhof sammeln…

Die Textaufgabe hätte für Jonas in diesem Falle hochemotionales Potential, welches sich über jegliche mathematischen Bemühungen erheben und Rechenfähigkeiten komplett zunichte machen würde.


Bevor wie also „von außen“ urteilen mit: „Falsch!“, würde es meist helfen, sich zunächst in die Gedankenwelt der autistischen Kinder zu begeben. Dort würde schnell offensichtlich, wo  Schwierigkeiten lauern und wie diese umgangen oder sogar aufgearbeitet werden könnten.


Ein authentischen Beispiel von unzähligen - es werden hier sicherlich noch einige folgen!


Bleibt neugierig aufeinander!


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