Viele Menschen halten Autisten für „komisch“ - also nicht im Sinne von: erheiternd, sondern sie empfinden sie bzw. ihr Verhalten als „eigenartig“.
Wenn ihr mir schon eine Weile folgt, habt ihr schon einige Geschichten von mir und meinen Klienten gehört, die versucht haben, ein wenig Erklärung zu bieten.
Oftmals steckt hinter den auffälligen - weil nicht alltäglichen, nicht „normalen“ - Verhaltensweisen einfach eine andere Wahrnehmung.
Und ganz oft, können wir das Verhalten selbst dann nicht verstehen, wenn wir um die möglicherweise andere Wahrnehmung wissen - denn wir können es oft nicht verstehen, einfach weil wir es nicht nachvollziehen können.
Manchmal können wir erahnen, warum Lotta (9 Jahre, nonverbal) vor der Wand sitzt und lacht.
Vielleicht hat jemand anderes, der sprechen und erklären kann, ebenfalls ein ausgesprochen feines Gehör und ihm fällt auf, dass Lotta immer dann lacht, wenn durch die Rohre, die hinter dieser Wand verlaufen, Wasser rauscht.
Mit der sensorischen Sensation, dass Lotta aber auch die Elektroleitungen hören kann, bleibt sie womöglich lange Zeit allein, da dies nun wirklich eine Sensation ist, die kaum jemand mit ihr teilen kann…
Ich darf nun seit 25 Jahren mit Autisten arbeiten und bin selbst mit einer sehr feinen Wahrnehmung ausgestattet.
So kann ich viele der sensorischen Besonderheiten meiner Klienten recht schnell nachempfinden, aufdecken oder zumindest erahnen.
Denn allein die Erfahrung mit so vielen verschiedenen Menschen hat mir bereits so viele Erlebnisse beschert… Ich liebe meinen Job! Es wird nie langweilig!
Willkommen im Reich der sensorischen Sensationen:
Doch Achtung: Auch dies ist ein Reich aus Licht und Schatten!
Lotta kann Elektroleitungen in der Wand hören.
Lotta kann nachts kaum schlafen, da in allen Räumen irgendwelche Geräusche sind, die sie wachhalten. Ihre Familie hat bereits beinah überall abschaltbare Steckdosen angebracht. Kaum ein Gerät, welches in anderen Familien selbstverständlich auf „Stand-by“ läuft, bleibt hier über Nacht an. Naja - aber den Kühlschrank z.B. kann man nur schwerlich abschalten…
Fabian hört das Fiepsen von Fledermäusen.
Fabian bekommt Panikattacken, wenn es für ihn zu laut ist. Seine Hände werden schweißnass, sein Herz beginnt zu rasen, Druck auf dem Brustkorb lässt seine Atmung flacher und flacher werden. So kann er kaum noch am Unterricht teilnehmen, musste bereits mehrfach nach Hause, da er in der Schule ohnmächtig wurde. „Nur“ wegen des Lärms in einer ganz normalen Klasse - während des Unterrichtes…
Ich höre Schmetterlingsflügel.
Plötzliche Geräusche lassen vor meinen Augen bunte Blitze zucken, da sich die feinen Muskeln um meine Augen dann zusammenziehen. Und diese Geräusche müssen nicht laut sein - das Niesen meiner Katze genügt…
Sina schmeckt sofort heraus, wenn an der Rezeptur eines ihrer Safe Foods etwas geändert wurde.
Das ist leider meist sehr dramatisch, da Sina ohnehin nur wenige Lebensmittel akzeptiert und stets an der Grenze zum Untergewicht ist.
Marvin kann ein herannahendes Gewitter fühlen. Es stellen sich seine Härchen auf den Unterarmen auf.
Leider kann Marvin viele Textilien nicht auf der Haut ertragen, da sie ihm zum Teil unerträgliche Schmerzen bereiten.
Oliver erkennt sofort die Stimmungen von Menschen.
Leider erträgt er genau deswegen auch nicht mehr als 3, möglichst ihm bereits bekannte Menschen in einem Raum. Neulich brach er in Tränen aus, als seine Lehrerin auf die Frage einer Kollegin: „Wie geht es Ihnen?“ mit „Gut!“ antwortete und lächelte. Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand, kein Schüler, kein Lehrer und kein Elternteil, dass der Vater der Lehrerin am Tag zuvor verstorben war. Oliver konnte diese Unstimmigkeit, die die rhetorische Frage und Antwort mit sich brachten, körperlich kaum ertragen.
Es kann hilfreich sein, wenn man riechen und auch schmecken kann, dass die winterlichen Straßen nicht vor Eis glitzern, sondern weil sie bereits mit Saltz gestreut wurden. Es kann aber wirklich anstrengend sein, wenn man einen Aufenthalt im Freien abbrechen muss, weil irgendwo in weiter Ferne die Kupplung eines Autos schmort und man aufgrund des Geruchs nicht mehr atmen kann. Der Hals „macht zu“ - und besser kann selbst ich, als nicht gänzlich wortungewandter Mensch, es nicht erklären…
Wenn wir also irgendwann mal etwas beobachten, was wir als „nicht normal“ einstufen würden - vielleicht warten wir erst einmal ab und beobachten… Oder fragen nach…
Hinter manch wunderlichem Verhalten steckt womöglich „nur“ eine ganz wunderbare Wahrnehmung.
Bleibt neugierig!
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