Ein Sprichwort besagt, dass man erst ein paar Meilen in den Schuhen eines anderen gegangen sein muss, um eine einigermaßen treffende Beurteilung abgeben zu können.
In diesem Sinne lade ich auch Seminarteilnehmer und auch dich als Leser dieses Blogartikels ein, sich einmal in die Wahrnehmungswelten eines möglichen Autisten zu begeben.
Stell dir vor, du musst eine Aufgabe erledigen, für die du deine ganze Konzentration und Aufmerksamkeit benötigst (als Kind waren das vielleicht Hausaufgaben, in der Ausbildung oder im Studium vielleicht Facharbeiten, Klausuren, später im Beruf Projektarbeiten, Steuerklärung oder ähnliches).
Wie richtest du dich zu solchen Aufgaben ein? Wie sorgst du dafür, dass dir diese Aufgabe gut gelingt? Einige Möglichkeiten:
Eine Tasse Kaffee
Leise Musik
Absolute Ruhe (Telefon/ Türklingel etc. aus)
Tageslicht
Frische Luft
Ausgeruhte, ruhige Grundstimmung
Aufgeräumter Schreibtisch
War da schon etwas für dich dabei? Du kannst diese Liste gern nach deinen eigenen Vorlieben erweitern! Denke dich mit allen Sinnen in deine perfekte „Fow-Atmosphäre“ hinein, ein Arrangement, in dem dir auch die höchsten Anforderungen bestmöglich gelingen würden.
Angekommen? Fühlt sich das gut an? (So gut, wie es sich eben anfühlen kann, wenn vor dir die gesamten, bislang noch ungeordneten Steuerklärungsunterlagen liegen... ;-))
OK, dann geht’s weiter:
Stelle dir vor, wie du an deinem gut eingerichteten Arbeitsplatz Platz nimmst, deinen Stuhl vielleicht nochmal perfekt einstellst und zurechtrückst, dich streckst, durchatmest und dich in die Arbeit vertiefst.
Funktioniert?
Prima - dann weiter:
Du sitzt konzentriert über deiner Aufgabe, es läuft gut, alle Unterlagen sind beisammen und müssen eigentlich nur sortiert und zusammengefasst werden.
Da bemerkst du:
Es zieht
Die Raumtemperatur ist etwas zu kühl, du fröstelst
Die Deckenlampe flackert leicht
Der Drucker neben dir fiepst
Der Kaffee ist kalt geworden und riecht abgestanden
Von draußen weht der Geruch eines frisch gedüngten Feldes herein.
Der Hund winselt
Der Stuhl knarzt bei jeder kleinen Bewegung
Deine Bronchien begleiten jedes Ausatmen mit einem Pfeiffgeräusch
Das kleine Schildchen mit den Waschempfehlungen in deinem T-Shirt kratzt
Die Müllabfuhr kommt – hast du den Müll rausgestellt? Ein großer schwarzer Vogel fliegt am Fenster vorbei
Der Junge von nebenan übt im Hof an den Garagentüren Torwandschießen
Es wird dunkel, du kannst klein Geschriebenes nur noch schwer lesen
Du bekommst Kopfschmerzen
Die Bäume draußen beginnen sich im Wind zu biegen
Erste Tropfen klatschen gegen die Fenster
Dein Magen knurrt
Dein Bekannter schickt im Sekundentakt Urlaubsbilder auf dein Handy - ping…ping…ping…
...na, kannst du dich etwa nicht mehr konzentrieren?
So oder so ähnlich geht es Autisten jeden Tag in jeder nur erdenklichen Minute.
Die Kinder sitzen im vollen Klassenraum, um sie herum kritzelt es, jemand niest, einige tuscheln, die Kreide kratzt an der Tafel (oder auch der Marker quietscht übers Whiteboard ;-)), auf dem Pausenhof sind schon Kinder, die fangen spielen... Die Sonne lacht, Vögel zwitschern, der Magen des Sitznachbarn knurrt, der eigene Magen auch...Zwischendurch redet jemand... ach, der Lehrer... ups.
So viele Reize, die oft permanent in gleicher Intensität das Gehirn erreichen und verarbeitet werden wollen.... Da bleibt kaum Raum für "Konzentration" im üblichen/ herkömmlichen/ neurotypischen Wortsinne...
Es lohnt sich immer, über reizmindernde Hilfen, Halt gebende Strukturen oder Alternativen zu den "normalerweise" funktionierenden Maßnahmen nachzudenken und diese mal auszuprobieren!
Da Autisten genauso individuell wie alle anderen Menschen auch sind, gibt es hier leider keine vorgefertigten Pläne. Hier müsst ihr ggf. gemeinsam auf Entdeckerreise gehen!
Bleibt neugierig aufeinander!
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