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Janina Jörgens

Den Menschen dort abholen, wo er gerade steht


Hand in Hand


Nein… ;-) Ich meine hier nicht die Frage: An welcher Bushaltestelle soll ich dich abholen? ;-)

 

Es gibt den Grundsatz in der therapeutischen und pädagogischen Arbeit, sein Gegenüber „dort abzuholen, wo er oder sie gerade steht“. 

 

Gerade bei einer „untypischen“ und womöglich unhomogenen Entwicklung muss man dann sehr genau schauen, wo genau das ist und vor allem: bezogen auf welchen Entwicklungsschritt…?

 

Ich werde mit Aaron, einem 13-Jährigen Gymnasiasten, der in der Schule eine Inkontinenzhose trägt, da er es nicht schafft, selbstständig auf Toilette zu gehen, z.B. kein „Töpfchentraining“ anfangen. Tatsächlich ist Sauberkeitserziehung ein ganz eigenes, sehr großes Thema - und meist keine Erziehungs- als vielmehr eine Reifungsfrage - doch dazu an anderer Stelle mal mehr.

 

Vielmehr würde ich hier erst mal die „Auftragslage“ klären - wer wünscht sich ein Leben ohne die Inkontinenzhose? Und sollte dies dann tatsächlich ein erklärtes Ziel bleiben, müssten wir gemeinsam schauen: Warum klappt das noch nicht? Was brauchst du, damit es klappen kann?

Zwar funktioniert der Toilettengang noch nicht selbstständig, was mit 3-4 Jahren (laut Lehrbuch) abgeschlossen sein sollte, dennoch braucht Aaron mit 13 Jahren kein Töpfchen, kein Belohnungs-Smartie und kein „Das hast du feiiiiiiiin gemacht! Pipi! Jippie! So ein toller Junge!“

Hier müssen die Rahmenbedingungen „13 Jahre“, „Autist“, „hochintelligent“ und „Harninkontinenz“ sinnvoll zusammengebracht werden.

 

Leider kann man sich zur „Standortbestimmung“ hinsichtlich der Fähigkeiten von neurodivergenten Menschen häufig nicht an den herkömmlichen Listen in Ratgebern orientieren… 

Viele meiner Klienten entwickeln sich absolut nicht „nach Lehrbuch“… Und schon gar nicht linear…

 

Kian konnte mit 5 Jahren zum Beispiel bereits hervorragend lesen, schreiben und rechnen… Das wusste nur niemand, da Kian noch nicht sprach… Bislang hatte man in der Logopädie mit ihm versucht, Blickkontakt zu üben, Klatsch- und Singspiele zu machen und ihm einzelne Worte mit Bildern aus einem Pappbilderbuch vorzusprechen… Dies alles gelang leider nicht gut, da Kian eine Mitarbeit bei der Logopädin weitestgehend verweigerte.

Per Zufall beobachtete ich im Eingangsgespräch, dass Kian offensichtlich lesen konnte - was selbst seine Mama allerdings nicht wusste…

Offensichtlich konnte und musste Kian also hinsichtlich eines erwünschten „Sprechen Lernens“ ganz woanders abgeholt werden…

 

„Den Menschen dort abholen, wo er gerade steht“ ist ein guter Ansatz.

Allerdings müssen wir auch diesen in der Arbeit mit Autisten anpassen.

 

Welcher Entwicklungsschritt lässt noch auf sich warten?

Warum hat dieser Schritt noch nicht stattgefunden?

Was braucht es, damit diese Entwicklung stattfinden kann?

Können wir diese erforderlichen Grundlagen schaffen?

Wie können wir diese Grundlagen entwicklungsgerecht - also an Alter und kognitive Fähigkeiten angepasst - anbieten?

 

Aaron braucht kein Töpfchen und Kian kein Pappbilderbuch.

Auch wenn „Sauberkeitserziehung“ meist mittels Töpfchen stattfindet und erste Worte durchaus mittels Bilderbuch begleitet werden können…

 

Neurodivergente Menschen zeigen uns oftmals ihre ganz eigenen Wege, Entwicklungsabfolgen und Bedürfnisse.

 

Wir müssen „einfach“ „nur“ genau hinschauen und fragen…

 

In diesem Sinne: Bleibt neugierig aufeinander.

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