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Janina Jörgens

Francesco! - Fallbeispiel PDA


Kind weigert sich


Francesco!

Ich lernte Francesco ganz zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn kennen. Tatsächlich sogar noch während meines Studiums im Praktikum.

Ich betreute die Kinder mit logopädischem Förderbedarf eines heilpädagogischen Kindergartens.

Es war eine kleine und sehr herzliche Einrichtung mit sonnendurchfluteten Räumen, Spiel-, Tobe- und Kuschelecken, kleinen Gruppen von Kindern mit unterschiedlichsten Behinderungen, einem wirklich guten Personalschlüssel, netten Kindern und engagierten Eltern.

 

Alles in Allem also wirklich ein toller Ort zum Wohlfühlen…

 

Und dann war da Francesco!

5. Kind einer italienischen Familie, erster Sohn.

 

Na, in euren Köpfen ergänzt sich jetzt vermutlich Vieles… und obwohl ich kein Freund von Vorurteilen bin - hier, in diesem Fall, stimmten sie so ziemlich alle… 

 

Francesco war der umworbene Prinz der Familie. Er wurde von seinen allesamt bereits erwachsenen Schwestern und seinen Eltern verwöhnt und umsorgt.

Und dagegen ist ja auch nichts einzuwenden…

 

Allerdings umsorgten und verwöhnten sie ihn nicht unbedingt ganz freiwillig. Denn Francesco hatte einen „sehr starken eigenen Willen“ - so sagte seine Mama und so stand es auch in allen Entwicklungsberichten der Kita.

 

Aus heutiger Sicht würde ich bei Francesco ziemlich klar ein PDA-Profil vermuten!

 

Wo Francesco im Kindergarten auftauchte, brach Chaos und Geschrei aus - meist innerhalb der ersten 2-3 Minuten.

Alles musste „nach seiner Pfeife tanzen“, sonst eskalierte jede Situation.

 

Francesco aß gern und wog mit 5 Jahren bereits 58 kg. Natürlich vermied er zunehmend auch jegliche Bewegung, da dies immer schwieriger und anstrengender für ihn wurde. Die Familie organisierte eine Diätberatung für Kinder… und Francesco tauchte am nächsten Morgen mit einem frischen Schokofleck auf dem T-Shirt und Chips-Krümeln im Mundwinkel auf.

„Er wäre sonst nicht ins Auto gestiegen…“, entschuldigte sich seine Mama.

 

Direkt nach dem ersten Kennenlernen von Francesco war mir klar: Das wird nicht einfach! Der „kleine“ Kerl hat das Potential, mir den Spaß am gesamten Kindergarten zu verderben…

 

Ich erschrak über meine eigenen Gedanken und schob bewusst einen Riegel davor.

STOP!

Nur weil bisher nichts an Förderung für und mit Francesco möglich war, musste das doch wohl nicht so bleiben… oder?

 

Niemand hatte ihn bislang zu irgendeiner Form von Mitarbeit bewegen können - warum sollte das also ausgerechnet mir, als Noch-Studentin, gelingen?

 

Der Gedanke hätte Frust auslösen können - ich aber nahm es sportlich und betrachtete die Voraussetzungen eher als Entlastung, denn was für Erwartungen können da schon auf mir liegen?

 

Also ging ich entspannt in die nächsten Stunden. Ohne Erwartungen an mich, ohne Erwartungen an Francesco.

Aber jederzeit bereit, mich auch an Kleinigkeiten zu erfreuen.

 

In den ersten Einheiten durfte Francesco alles bestimmen, was in dem Therapie-Zimmer passierte - schließlich hatte ich mein Ziel hier schon voll erreicht: Er war mit mir in dieses Zimmer mitgekommen und bereit, sich mit mir darin aufzuhalten und zu beschäftigen!

Prima!

 

Nach einem Monat wagte ich die ersten vorsichtigen Vorstöße, indem ich Spielabläufe minimal veränderte, eigene Ideen einbrachte.

Diese wurden höchst misstrauisch beäugt und keinesfalls übernommen, aber immerhin toleriert!

 

Irgendwann bezog Francesco meine Ideen - als seine eigenen getarnt… - in das Spiel mit ein.

 

Also zündete ich die nächste Stufe.

Ich stellte ein Spiel auf den Tisch, bevor Francesco mit mir das Zimmer betrat.

 

Für ihn eine klare Aufforderung - also ein klares „Nein!“

Gut, ich räumte das Spiel mit entschuldigenden Worten weg: „Ach, entschuldige, das hatte ich ganz vergessen wegzuräumen, das war noch von dem Kind, das vor dir hier war…“

 

Zur nächsten Einheit stand dasselbe Spiel wieder auf dem Tisch.

Francesco ging nicht gleich in eine lautstarke Abwehr, sondern zeigte nur stumm auf das Spiel, schaute mich mit einem „boah…. Echt jetzt?!“- Blick an und ich räumte, wieder mich entschuldigend, das Spiel weg.

 

Richtig - ihr ahnt es - auch in der Folgewoche lag das Spiel auf dem Tisch. Francesco war genervt, konnte aber ruhig bleiben. Ich erklärte meine wiederholten „Versäumnisse“: „Ach, immer vergesse ich das Spiel wegzuräumen, bitte entschuldige… Das spielen hier gerade so viele Kinder - ich weiß gar nicht warum… Aber weil es dauernd aus dem Schrank geholt wird, lasse ich es mittlerweile oft einfach liegen.“ Ich räumte es weg.

 

Und in der Woche danach, ja mittlerweile war ein kompletter Monat vergangen…, lag das Spiel nicht auf dem Tisch.

Francesco schaute mich fragend an und ging zum Schrank. Er öffnete die Tür und fand das Spiel. Er nahm es raus, legte es auf den Teppich, öffnete es und wollte es spielen…

 

;-)

 

In meinem Inneren tanzten ganze Samba-Gruppen vor Freude, nach außen setzte ich mich ganz ruhig zu ihm und wir begannen zu spielen.

 

Im weiteren Verlauf konnte Francesco immer besser Kompromisse mit mir eingehen. Zunächst musste er den Hauptteil der Einheit bestimmen, aber nach und nach konnte auch ich ein paar Inhalte vorschlagen, sogar zunehmend mit längerer Dauer.

 

Als mein Praktikum endete und ich die Einrichtung verließ, suchte die Familie mich und folgte mir nach - Francesco käme sonst mit niemandem klar. Er hatte in einem halben Jahr 7 Therapeuten „verschlissen“…

 

Also aus heutiger Sicht könnte ich der gesamten Situation ganz tolle Labels aufkleben.

PDA, low arousal, declarative language…

 

All diese Bezeichnungen gab es damals noch nicht.

 

Dennoch habe ich dementsprechend gearbeitet und konnte selbst mit einem bislang „schwierigen“ Kind und seiner Familie gemeinsam tolle Erfolge feiern.

 

Die Grundlage dieser erfolgreichen Zusammenarbeit mit Francesco war tatsächlich die „0-Erwartungshaltung“. Dadurch hatte nicht nur ich die nötige Ruhe, sondern eben auch und vor allem Francesco.

 

Als sich unsere Wege dann ein paar Jahre später trennten, weil Francesco seine sprachlichen Schwierigkeiten überwinden konnte, war ich wirklich traurig. Er war mir ganz besonders ans Herz gewachsen.

 

So können gerade die Klienten, die einem (zu Beginn) besonders viel abverlangen, schlussendlich die sein, mit denen man das beste Team bilden lernt!

 

In diesem Sinne: Bleibt neugierig aufeinander!

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