„Wenn ihr euren Sohn ständig vorm Fernseher parkt, ist es ja kein Wunder, dass er keine Freunde hat…“
„Also meine Tochter bekommt ihr erstes Handy erst in der 5. Klasse!“
„Ihr macht es euch aber auch echt einfach, euer Kind ständig vor den Medien zu parken…“
…
Na? Wer kennt´s?
So - und dann komme ich als Autismustherapeutin um die Ecke und sage: „Medien können absolut tolle Helfer sein!“
Dann ist meist erst mal empörte Ruhe.
Und warum mache ich solche Aussagen?
Weil ich es schon so oft beobachtet habe, welch wohltuende Auswirkungen Medien auf neurodivergente Menschen haben können!
Ja: „haben können“ - nicht „haben müssen“.
Manche neurodivergente Menschen lehnen Medien auch ab oder sind nach ein paar Minuten Fernsehen völlig aufgewühlt und überreizt, geraten vielleicht nach einem nicht gewonnenen Videospiel völlig in Rage, usw.
Auch hier sind die Menschen eben so unterschiedlich, wie sie nun einmal sind.
Medien können aber auch ein Segen sein!
Ja, man kann den Nachwuchs damit auch mal beschäftigen - oder wie in der Aussage oben: „parken“.
Das finde ich allerdings weniger verwerflich als vielmehr menschlich…
Denn wenn Medien das einzige Medium sind, mit welchem sich das Kind auch mal ein paar Minuten allein beschäftigen kann, warum soll man das dann nicht auch mal nutzen?
Gerade neurodivergente Kinder, insbesondere z.B. Kinder mit PDA-Profil, benötigen so viel Co-Regulation, so viel ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Bezugspersonen, dass für die Care-Arbeit zu Hause ansonsten einfach keine Zeit und kein Raum bliebe…
Medien können allerdings auch als Stimming-Tool gute Dienste leisten, also zum „Runterkommen“, zum Entspannen nach einem langen Tag in der Kita, der Schule oder eben auch dem Büro.
Die Vorteile liegen auf der Hand:
Medien sind immer verfügbar. (Zu jeder Zeit an jedem Ort).
Medien sind steuerbar. (Die Inhalte können eigenaktiv ausgewählt und beliebig oft gestoppt oder wiederholt werden.)
Medien sind vorhersagbar. (Die Lieblingsinhalte sind bekannt - man kann sich ohne Überraschungen „berieseln“ lassen und alle Feinheiten und Nuancen in Ruhe kennenlernen.)
Medien brauchen keine sozialen Fähigkeiten. (Anders als bei einem Besuch von Freunden oder ein Nachmittag auf dem Fußballplatz.)
Medien ermöglichen körperliche Entspannung bei gleichzeitig mentaler Stimulation.
Von außen mag die Nutzung der diversen Medien vielleicht „komisch“ aussehen. Aber wisst ihr was? Beobachtet mal ganz genau, was da vielleicht gerade passiert!
Vielleicht wird eine Sequenz wieder und wieder abgespielt?
Warum nicht? Vielleicht wird da gerade etwas Spannendes ergründet, etwas Neues gelernt!
Vielleicht wird ein Film ohne Ton angeschaut?
Warum nicht? Vielleicht ist zu viel akustischer Input gerade nicht gewünscht, oder es werden andere Dialoge im Kopf erfunden - oder es wird die Mimik studiert!
Einer meiner kleineren Klienten (5 Jahre, atypischer Autist) brachte sich mit der Serie „Thomas, die kleine Lokomotive“ selbst das Sprechen bei. Er studierte einzelne Szenen immer und immer wieder. Er lernte ganze Sätze, Fragen und Antwortmöglichkeiten in verschiedenen Szenen auswendig und erprobte diese dann regelrecht im Kindergarten. Es war faszinierend zu beobachten!
Medien werden gern zur Recherche bezüglich des eigenen Spezialinteresses genutzt oder zur Beantwortung all der vielen Fragen, die sonst womöglich niemand für einen beantwortet.
Ich nutze Medien sogar gern in der Therapie, wenn wir z.B. mit Kindern, Jugendlichen aber auch Erwachsenen soziale Fähigkeiten üben wollen. Nirgends kann man menschliche Verhaltensweisen besser beobachten und analysieren! Würden wir auf dem Spielplatz, an der Bushaltestelle oder im Supermarkt so unverhohlen die Leute beobachten und ihren Gesprächen lauschen… ich glaube, das käme bei unseren „Studienobjekten“ nicht wirklich gut an! ;-)
Und es wäre wirklich unangemessen, wenn wir bitten würden, eine Reaktion oder einen Satzteil für uns nochmal zu wiederholen! ;-)
Beim Anschauen von Szenen aus Soap-Operas, Serien und Filmen können wir das alles ganz in Ruhe tun!
Und es gibt mittlerweile so viele autistische Figuren in diversen Filmen und Serien - auch hier kann eine Annäherung, eine Akzeptanz der eigenen Diagnose hervorragend bearbeitet werden. Dies sollte definitiv gemeinsam geschehen!
Es ist allerdings wichtig, die Inhalte, die die Menschen konsumieren, zu beobachten und ggf. im Vorfeld auszuwählen. Auch zeitliche Absprachen und ggf. Einschränkungen können notwendig sein.
Ich bitte darum, dies stets in Absprache mit den Kindern und Jugendlichen zu tun.
Bitte besprecht gemeinsam, sachlich und in Ruhe, warum manche Inhalte einfach (noch) nicht geeignet sind. Erklärt, warum ein „Zuviel“ zu einer Überreizung führen kann und ihr daher eine Dauer womöglich besprechen müsst.
Mediennutzung ist ein sehr großes und weites Feld!
Vermutlich wird dies hier nicht der letzte Artikel zu diesem Thema sein!
Bleibt neugierig
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