Unterfordert! - Alina verschafft sich neue Worte!
- Janina Jörgens
- 24. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Heute möchte ich ein Fallbeispiel mit euch teilen, welches ich in meiner Tätigkeit als Sprachtherapeutin erleben durfte.
Schon damals bestand mein Klientel größtenteils aus Autistinnen und Autisten.
Heute berichte ich euch von Alina, sechs Jahre, Autistin, nonverbal.
Alina sollte in der Sprachtherapie lernen, mittels Symbol-Karten zu kommunizieren.
Alina benutzte bis zu diesem Zeitpunkt noch keine verbale Sprache. Wenn sie einen Gegenstand haben wollte, zeigte sie darauf oder nahm eine sich in der Nähe befindliche Person an der Hand und führte diese zum gewünschten Gegenstand.
Sie war ein aufgewecktes, fröhliches Mädchen, welches die Herzen aller im Sturm eroberte.
So begannen wir, ihr in der Sprachtherapie Symbol-Karten näherzubringen.
Ein Symbol-Verständnis war von Beginn an vorhanden.
Wir starteten also klassisch mit der Karten-Auswahl “nochmal“ und „fertig“.
Schnell hatte Alina verstanden, dass sie, wenn sie auf die Karte „nochmal“ zeigte oder diese übergab, mehr von dem bekam, was sie gerade wünschte.
Also erreichten wir schnell den nächsten Schritt: eine Auswahl zwischen zwei Alternativen treffen.
Alina durfte aus zwei Alternativen, welche ihr beide potentiell gefielen, eine Auswahl treffen.
Zum Beispiel: „Welches Spiel sollen wir gemeinsam spielen?“
Zur Auswahl standen ein Puzzle Spiel oder die Murmelbahn.
Alina entschied sich zielsicher für die Murmelbahn und schien im gemeinsamen Spiel sehr zufrieden.
Im weiteren Verlauf der Therapiestunde durfte Alina noch mehrere Entscheidungen aus jeweils zwei Vorschlägen treffen.
Ich wählte stets zwei Angebote aus, von denen ich wusste, dass beide Alina gefallen würden.
In der folgenden Stunde begann ich wieder mit einer Auswahl aus zwei Alternativen. Da auch dies erneut von Beginn an sofort funktionierte, erweiterte ich die Auswahl auf drei Angebote.
Alina sah mich kurz fragend an und traf dann zielsicher ihre Auswahl.
Ich war sehr erfreut, wie schnell Alina das Konzept für sich umsetzte.
So bot ich ihr in derselben Stunde direkt ein weiteres Mal eine Auswahlmöglichkeit zwischen drei Alternativen.
„Was möchtest du als Nächstes machen?“
Zur Auswahl standen: ein Puzzle, ein Bilderbuch anschauen, ein Spiel mit Zootieren.
Alina schaute auf die Karten.
Dann drehte sie sich weg.
War sie müde? Hatte ich zu viel verlangt?
Ich fragte Alina erneut: „Was möchtest du als Nächstes machen?“, und deutete auf die Karten.
Alina drehte kurz den Kopf zurück, schaute erneut auf die Karten und drehte sich wieder weg.
Gerade als ich Luft holte, um Alina erneut anzusprechen, stand sie auf und entfernte sich von unserem Platz in der Mitte des Spielteppichs.
Sie ging zum Schreibtisch, umrundete diesen, und zwängte sich zwischen der Wand und meinem Stuhl am Tisch vorbei.
Was tat sie da? Wollte sie sich verstecken? Wollte sie etwa in meiner Tasche nachschauen, ob ich Süßigkeiten dabeihatte? (Tatsächlich hatte sie mir vor einigen Wochen einen Schoko-Osterhasen, stibitzt. ;-))
Nein!
Alina wollte an die Kiste, in der ich sämtliche Symbol-Karten aufbewahrte, die mir zur Verfügung standen.
Alina nahm den Kasten zur Hand, blätterte durch die Symbol-Karten und kam mit einem strahlenden Lächeln und einer Symbol-Karte in der Hand auf mich zu.
Sie drückte mir die Karte in die Hand. Darauf zu sehen war eine Lokomotive.
„Die Holzeisenbahn?“, fragte ich lachend. „Du möchtest mit der Holzeisenbahn spielen?“
Alina strahlte noch mehr, wenn das überhaupt möglich war und flitzte zu dem Schrank, in dem wir die Holzeisenbahn aufbewahrten.
Von wegen „Vielleicht hab ich zu viel verlangt!“ Eher hatte ich viel zu wenig verlangt! Alina war offensichtlich unterfordert!
Zum Glück habe ich sie auf ihrem Weg zur Karten-Box nicht unterbrochen, habe sie nicht von ihrer Idee abgehalten. Wer weiß, wie lange ich sie ansonsten mit einem langsamen Steigern von Alternativen ausgebremst und vermutlich gelangweilt hätte?
Alina hüpfte in der folgenden Stunde vor Freude, als sie sah, dass ich die gesamte Box mit allen zur Verfügung stehenden Symbolen auf unseren Spielteppich gestellt hatte.
Freie Auswahl!
Alina war begeistert.
Es dauerte nur drei Monate, bis Alina im Besitz eines Talkers war, welchen sie sehr schnell sehr effektiv zu nutzen lernte.
Schnell wurde deutlich, dass Alina in der Schule, an welcher sie zunächst angemeldet wurde (eine Förderschule für geistige Entwicklung) definitiv nicht richtig aufgehoben gewesen wäre.
Alle Hebel wurden in Bewegung gesetzt und Alina startete ihre schulische Karriere in einer Integrationsklasse an einer Regelschule.
Die Moral von der Geschicht`?
Unterbrich die Kinder nicht!
;-)
Geduld, abwarten, beobachten - all dies sind so wertvolle Eigenschaften, wenn Menschen sich begegnen!
Und Neugier
In diesem Sinne: bleib neugierig!
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