Zerrissen zwischen Diagnosen - ASS + ADhS
- Janina Jörgens
- 3. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Simone seufzt.
„Es ist, als wenn auf meinen Schultern zwei Teufelchen sitzen, die sich den ganzen Tag gegenseitig anschreien!“
Simone ist spätdiagnostizierte Autistin. Erst mit 39 Jahren wurde bei ihr (Asperger-) Autismus diagnostiziert.
„Die Diagnose war für mich eine große Erleichterung. Naja, vielleicht nicht gleich von Anfang an. Erst mal war’s schon ein Schock. Ich hatte doch mein ganzes Leben gut hinbekommen, oder? Und auf einmal war ich durch eine ärztliche Diagnose plötzlich „behindert“…“
Eine späte Autismus-Diagnose kann ein Leben erst mal ordentlich durchrütteln und aufwühlen. Das gesamte Leben wird in der Rückschau möglicherweise erst mal in Frage gestellt.
Eine Diagnose ist jedoch oft auch der erste Schritt in Richtung neuer Erkenntnisse bezüglich sich selbst. Das Leben muss unter neuen Vorzeichen gelebt werden, beziehungsweise es darf unter neuen Vorzeichen gelebt werden!
„Ich war ab dem Tag der Diagnose tatsächlich netter zu mir selbst“, berichtet Simone. „Irgendwie war mir zwar schon immer klar, dass ich nicht falsch bin, sondern nur irgendwie anders… Aber durch die Diagnose hatte ich viel mehr das Gefühl, auf mich achten zu dürfen.
… aber trotzdem hatte ich immer noch das Gefühl, dass irgendetwas noch immer nicht ganz stimmt, dass irgendetwas vielleicht fehlt…“
Tatsächlich stellte sich ein paar Monate später heraus, dass Autismus nicht Simones einzige Diagnose war.
Simone hat die Kombi-Diagnose, Autismus und ADHS.
„Dadurch war auch klar, warum ich so lange Jahre nicht aufgefallen bin, warum ich meine Autismus-Diagnose überhaupt erst so spät bekommen habe. Manchmal wiegen die Symptome sich irgendwie gegenseitig auf. Ich fühlte mich nie autistisch genug, um eine Diagnose anzustreben. Schließlich war ich durchaus gern unter Menschen, konnte mich auch für spontane, neue Dinge prima begeistern und im Gegenzug haben mich zu starre Pläne oft wahnsinnig gemacht. Ich konnte mich nie an die Pläne halten, sie haben mich eher eingeengt und gebremst. Alles das waren die ADHS-Anteile in mir, wie ich jetzt weiß.“
Tatsächlich gibt es die Kombi-Diagnose, Autismus und ADHS recht häufig. Die angenommenen Fallzahlen gehen davon aus, dass bis zu 80 % der autistischen Menschen zusätzliche ADHS-Komponenten zeigen. Solche Zahlen betrachte ich immer mit größter Vorsicht. Gerade bei neurodivergenten Diagnosen sind Dunkelziffern sehr hoch und bedingt durch die immer bessere Aufklärung und auch bessere Diagnosemöglichkeiten steigen Fallzahlen in allen Bereichen rapide an beziehungsweise verschieben sich.
„Ich muss jetzt lernen, mit beiden Diagnosen umzugehen. Vielleicht schaffe ich es irgendwann, die Vorzüge beider Diagnosen miteinander zu kombinieren, beziehungsweise sie bestmöglich für mich zu nutzen… Bis dahin scheint es aber noch ein sehr langer Weg zu sein! Zur Zeit ist es eher so, dass in meinem Kopf ein ständiger Kampf tobt. Einerseits will der ADHS-Teil neue Menschen kennenlernen, Partys besuchen, verpasste Gelegenheit nachholen, neue Projekte angehen und vieles mehr. Andererseits schreit im gleichen Moment der Autismus in mir: „Mach mal langsam! Ich brauche Pausen! Ich kann mich nicht um alles kümmern!“… und so geht das jeden Tag, gefühlt in jeder Minute. Das ist fürchterlich anstrengend und zermürbend!
Auch das Thema „Grenzen setzen“ fällt mir unglaublich schwer!
Ich weiß, dass ich mehr Pausen brauche als neurotypische Menschen, aber gleichzeitig kann ich Pausen irgendwie nicht! Wenn ich eine Pause mache, und mich hinsetze, habe ich das Gefühl, mein Nervensystem fährt sofort nicht nur runter, sondern direkt ins dritte Untergeschoss.
Zusätzlich ist es so, dass ich oft ja auch gar keine Pausen machen will, weil das, was ich gerade mache und erlebe, mir große Freude bereitet. Ich will die Party gar nicht früher verlassen! Zeitgleich weiß ich, dass ich sie früher verlassen sollte. So bin ich also nicht nur auf der Party und habe Spaß, wie das vermutlich bei neurotypischen Menschen sein dürfte, sondern mache mir die ganze Zeit Gedanken, ob und wie sehr ich jetzt schon wieder über meine Grenzen gehe und was mich in den nächsten Tagen deshalb vielleicht an Erschöpfung erwartet… Ich wäge ständig ab, bin also auch hier mit Kopf und Herz nie nur bei dieser einen Sache. Echt anstrengend…
Und trotzdem, je mehr ich über beide Diagnosen erfahre, umso weniger würde ich auch nur eine von beiden abgeben wollen! Beide Diagnosen machen mich zu dem Menschen, der ich bin. Und ganz ehrlich? Ich möchte nicht anders sein. Ich kenne mich so, ich mag mich so und mit dem Wissen um beide Diagnosen, habe ich das Gefühl, mag ich mich sogar jeden Tag noch ein kleines bisschen mehr, weil ich mich jeden Tag noch ein wenig besser kennen lerne!“
Simone lacht.
„Und eins ist sicher! Langweilig wird es mir nie!“
Na, das ist doch mal ein liebenswertes Fazit!
Ja, es kann anstrengend sein, sich selbst kennenzulernen.
Ja, es ist noch anstrengender, wenn man als neurodivergenter Mensch in einer neurotypischen Welt oft zunächst wenig Vergleichsmöglichkeiten erhält, belächelt, abgelehnt, missverstanden wird.
Und ja, wenn man sich dann auch noch „doppelt“ neu kennenlernen darf, wird es nochmal anstrengender…
Aber: Es lohnt sich!
Bleibt neugierig!
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